Das Vermächtnis des Templers
tust. Stattdessen denkst du nach, was du tun wirst, was geschehen wird. Wenn du den Bogen spannen willst, denkst du über das Spannen des Bogens nach, statt den Bogen zu spannen. Erinnere dich an unsere Begegnung mit den Wölfen. Jene Gegenwärtigkeit, die du damals im Augenblick der Gefahr gezeigt hast, benötigst du jetzt, um die Kunst des Bogenschießens zu erlernen.»
Johannes sah seinen Meister erst ratlos an und äußerte dann seine Vermutung, dass es wohl irgendeine Technik oder ein einfaches Rezept geben müsse, um die Kraft zu entwickeln, den Bogen zu spannen.
Doch Jacques schüttelte den Kopf. Er nahm den Bogen und forderte seinen Schüler auf, ihm während des nun folgenden Schusses mit der Hand den Oberarm zu umfassen. Während Jacques in eleganten Bewegungsabläufen den Bogen spannte und den Pfeil davonschnellen ließ, bemerkte Johannes, dass die Muskulatur des Meisters bei all dieser Bewegung so spannungsarm war, als würde ihm all das nicht die geringste Mühe bereiten.
Am frühen Morgen des folgenden Tages setzten sie die Übungen mit dem Bogen fort. Auch heute endeten die ersten Versuche kläglich. Johannes war verzweifelt. Wie sollte er die Kunst des Bogenschießens erlernen, wenn es ihm nicht einmal gelang, den Bogen zu spannen? Wäre es nicht besser gewesen, beim Schwert zu bleiben?
Jacques war der Unmut seines Schülers nicht verborgen geblieben.
«Hab Geduld», sagte er. «Du musst einfach den Gedanken fallen lassen, dass man das Bogenschießen in wenigen Tagen erlernen kann. Es wird lange dauern, bis du dich einen Meister nennen kannst. Das ist so. Sei also unbesorgt.»
Der Meister nahm den Bogen wieder zur Hand.
«Ich glaube, du tust dich deshalb so schwer, weil du falsch atmest. Für das Bogenschießen ist es wichtig, dass du langsam und gleichmäßig ein- und ausatmest. Verbinde deine Atmung mit den Bewegungen des Bogenschießens.»
Jacques nahm einen Pfeil auf, legte ihn auf, hob den Bogen an, spannte ihn und verweilte, um schließlich den Pfeil zu lösen. Nun, da ihm dies bewusst war, sah Johannes, dass der Meister jeden dieser Bewegungsabschnitte durch Einatmen einleitete, durch das Anhalten des Atems kurzzeitig in der Schwebe hielt und mit dem Ausatmen abschloss.
Den gesamten Tag verbrachte Johannes damit, Atem und Bewegung in ein Gleichmaß zu bringen. Die Gebetsstunden waren ihm nun eine angenehme Pause. Am Nachmittag machte er während der Gebete zur Non die Beobachtung, dass sich die Schulung des Atems unwillkürlich auch auf seinen Gesang während des Gottesdienstes auswirkte. Schlagartig wurde ihm bewusst, wie aus dem Atem Gesang entstand, jener Gesang, der den Menschen mit Gott verbindet. Hatte Gott dem ersten Menschen nicht den Atem eingehaucht und ihn damit zum Leben erweckt? Der Gedanke, dass der Atem ihn auf den Ursprung seines Daseins zurückführte, stimmte ihn froh. Und er ahnte, dass sein Meister ihm mehr beibrachte als die Kunst des Bogenschießens.
Am folgenden Tag setzte Johannes seine Bogenübungen gut gelaunt fort, war sehr geduldig und guten Willens. Doch auch der beste Wille vermochte nichts auszurichten gegen Verspannungen der Schultern und Versteifung der Muskulatur in den Oberschenkeln. Jacques korrigierte mehrfach die Haltung seines Schülers. So vergingen Tage. Johannes hatte bald jedes Zeitgefühl verloren. Lediglich die Stundengebete gaben dem Leben eine Struktur.
Dann geschah es. Am späten Nachmittag hatte Johannes wie hunderte Male zuvor den Bogen gespannt und den Schuss gelöst. Doch das Spannen der Sehne war ihm diesmal mit einer Leichtigkeit geglückt, die ihm selbst unerklärlich blieb. Er hatte während dieser Bewegung eine tiefe Selbstgelöstheit gespürt. Dem Meister war all das sofort aufgefallen. Er kam auf Johannes zu und beglückwünschte ihn.
«Du hast es geschafft. Für einen Moment warst du ganz Bogen, ganz Sehne.»
Johannes war überglücklich, so dass er kein Wort von sich geben konnte. Jacques brach die Übung ab und bat seinen Schüler, die Atemübungen fortzusetzen.
In den folgenden Tagen gelang es Johannes zunächst nur selten, den Bogen in dieser Weise zu spannen, aber er wurde darin immer gelöster, und die gelungenen Versuche mehrten sich. Ganz offensichtlich war der Atem die Brücke dieser Einheit von Schütze und Bogen.
Als das Spannen des Bogens immer besser gelang, begann Jacques die Aufmerksamkeit seines Schülers auf das Lösen des Schusses zu lenken. Johannes hatte die Sehne bislang immer dann gelöst, wenn der Druck
Weitere Kostenlose Bücher