Das Vermächtnis des Templers
den Weg des Geistes, der erfrischend in die Arbeit der Mönche eingehen will.
Nach dem Kyrie und dem Vaterunser erteilt Johannes den Segen. Die Mönche verlassen die Kirche. Johannes bleibt für einen Moment, um die Stille aufzunehmen, die im Chorraum verblieben ist. Dann tritt er hinaus in den Kreuzgang, blickt in den unbewölkten, klaren Dezemberhimmel, um sich kurz darauf wieder den Büchern zuzuwenden, die seine Freunde geworden sind, besonders jenes Buch, das bald seine eigene letzte Lebensspur sein wird …
4. Kapitel
Sie waren den Fluss Seine entlang nach Norden geritten und seinem Lauf auch dann noch gefolgt, als er einen weiten Bogen machte und schließlich in südliche Richtung dahinfloss. Rouen hatten sie längst aus den Augen verloren. Johannes war aufgefallen, dass Jacques größere Orte offenbar mied. Aber auch das konnte durchaus Teil der Kunst des Kriegers sein, und so hatte er ihn nicht danach gefragt.
Am frühen Abend verließen sie den Fluss, durchquerten in westlicher Richtung dichten Wald, bis sich überraschend eine Lichtung auftat und zwei gigantische Türme vor ihnen in den Himmel ragten. Johannes hätte hier mitten im Wald mit vielem gerechnet, nicht aber mit solch atemberaubenden Bauten. Diese Türme waren offensichtlich Teil der Fassade einer Kirche, die alles, was Johannes bislang gesehen hatte, an Höhe übertraf.
Mehr konnte er zunächst nicht wahrnehmen, denn schon hatten sie eine hohe Mauer erreicht. Ein Mönch am Tor gewährte Einlass, nachdem er Jacques erkannt hatte. Die beiden Reiter stiegen ab, durchquerten die Pforte, übergaben dem Mönch das Pferd, nicht ohne zuvor die Dinge, die sie in den letzten Tagen mit sich geführt hatten, vom Sattel zu nehmen.
Jetzt erst hatte Johannes die Möglichkeit, sich umzuschauen. Auf eine Entfernung von wenigen Schritten wirkte die Westfassade der Abteikirche noch beeindruckender. Sie mochte wohl doppelt so hoch sein wie die des Doms zu Minden. Der Eingang maß etwa die Höhe dreier erwachsener Männer und war so breit, dass jedes Pferdefuhrwerk ohne Schwierigkeiten hätte hindurchfahren können. Etwa zehn Schritt über der Pforte erblickte Johannes eine Reihe von schmalen Rundbogenfenstern, die sich fünf Schritte höher wiederholte, bevor die Westfassade nach oben spitz zulief. Die beiden viereckigen Türme rechts und links bestanden wie die Fassade aus schlichtem, unverziertem Sandstein. Erst im oberen Drittel erkannte der Junge Arkaden aus schmalen Rundbogenfenstern. Auf den letzten Metern war der Baumeister vom quadratischen zum achteckigen Grundriss übergegangen, was den aufstrebenden Charakter der Türme noch verstärkte.
Zur Rechten grenzte an die Kirche ein langgestreckter Gebäudekomplex. Johannes ahnte, was sich dahinter verbarg. Die beiden Männer betraten das Gebäude durch eine kleine Pforte, durchquerten es und gelangten auf der anderen Seite in den Kreuzgang. Johannes blickte auf eine streng geometrisch geordnete Rasenfläche, die die quadratische Anlage des Kreuzgangs noch deutlicher werden ließ und in der Diagonale wohl 50 Schritte maß. Lediglich ein Brunnenhaus an der Nordwestseite schien das Ebenmaß zu stören, doch bei genauem Hinsehen war auch dies in die Geometrie integriert.
Von dort kam ein Mönch in weißer Kutte langsam auf sie zu. Er ging gebeugt und benutzte einen Gehstock. Jacques begrüßte ihn, nannte ihn bei seinem Namen und sprach in freundlichen Worten, die Johannes nicht verstand, die aber vokalreich und wohlwollend klangen. Dann kam der Mönch auf Johannes zu, umarmte ihn ebenfalls und begrüßte ihn in fließendem Latein.
«Willkommen, junger Freund aus dem fernen Land der Sachsen. Mein Name ist Columbanus. Ich bin der Abt dieses Klosters. Ihr habt eine lange Reise hinter Euch. Fühlt Euch bei uns heimisch. Hier sollt Ihr eine Zeitlang bleiben und die Gastfreundschaft der Brüder von Jumièges genießen. Seid willkommen.»
Johannes kniete nieder und küsste den Ring des Abtes. «Erhebt Euch und folgt mir.»
Gemeinsam gingen die drei Männer zunächst durch den
westlichen Kreuzgang. Der Abt zeigte seinen beiden Gästen die Sakristei, dann den Kapitelsaal und schließlich den Eingang zu einer Kapelle, die dem heiligen Petrus geweiht war. Nach links ging es in den südlichen Kreuzgang. Hier betraten sie einen großen Saal. Johannes erblickte etwa dreißig Mönche, die Bücher studierten oder abschrieben. An den Wänden des Raumes bemerkte Johannes Regale, in denen Buchbände und gerollte
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