Das Vermächtnis des Templers
unerträglich geworden war. Gegen die Schmerzen in den Fingern hatte er von seinem Meister einen Lederhandschuh erhalten. Aber auch das änderte nichts daran, dass er letztlich der Spannung der Sehne und damit seiner eigenen Kraftlosigkeit nachgab.
Nun machte ihm der Meister klar, dass er bislang nur auf die Spannung geachtet, die Loslösung der Sehne aus den Fingern bislang aber völlig vernachlässigt hatte. Jacques nahm den Bogen und forderte seinen Schüler auf, bewusst auf den Vorgang des Lösens zu achten.
Johannes beobachtete, wie er den Bogen spannte und schoss. Es entging ihm nicht, dass Jacques die rechte Hand öffnete, dass diese Hand, plötzlich vom Zug befreit, zurückschnellte, doch er bemerkte ebenso, dass der Körper des Schützen dabei nicht im geringsten erschüttert wurde. Stattdessen führte Jacques den Schussarm langsam zur Seite und streckte ihn aus. Hätte man den Pfeil nicht fliegen und mit dumpfem Schlag auf dem Strohballen auftreffen gesehen, hätte man die Bewegungen des Schützen für eine Art Tanz halten können.
Von nun an versuchte Johannes, die kunstvollen Bewegungsabläufe des Meisters nachzuahmen. Doch die Aufgabe schien unmöglich. Während der nächsten Tage kam es Johannes oft so vor, als schieße er dilettantischer als zu Beginn seiner Ausbildung. Auch das innerlich gelöste Spannen des Bogens wollte nicht mehr gelingen. Schließlich nahm Jacques ihn zur Seite und sprach ihm Mut zu.
«Überlege nicht, was du zu tun hast. Und denke keinesfalls daran, dass du etwas erreichen willst. Dein Wille hindert dich. Sei ohne jede Absicht. Öffne dich und spüre. Dann wird es wie von selbst geschehen, dass sich die Sehne löst, fast so, als würde sie einfach durch deine Finger hindurchgehen. Wenn ein kleines Kind nach deiner Hand greift, hält es diese so fest geschlossen, dass du dich über seine Kraft wunderst. Aber wenn es sich wieder abwendet und die Hand loslässt, geschieht dies fast unmerklich. So ist es auch mit dem Bogenschießen.»
Nach und nach gewann Johannes die innere Ruhe zurück. Dass es ihm bald wieder gelang, den Bogen kunstvoll zu spannen, lag auch daran, dass er die täglichen Übungen gelassener nahm. Der Meister lobte ihn oft und machte ihm zugleich deutlich, dass die misslungenen Versuche ebenso wichtig seien wie die gelungenen.
Nachdem sie etwa zwei Wochen geübt hatten, sagte Jacques, dass er für einige Tage nach Rouen reisen müsse. Johannes solle die Atemübungen fortsetzen und die Zeit nutzen, um die Bibliothek kennenzulernen. Eine Unterbrechung der Schulung im Bogenschießen sei durchaus sinnvoll, weil man danach gelöst und erholt einen neuen Anlauf nehmen könne.
«Zur Kunst des Bogenschießens gehört auch das rechte Warten.»
Mit diesen Worten hatte sich Jacques von seinem Schüler verabschiedet. Johannes war im Zweifel. Vielleicht würde er in dieser Zeit manches verlernen. Immerhin hatte er nun Gelegenheit, die Bibliothek aufzusuchen. Nachdem der Meister morgens nach Rouen aufgebrochen war, nahm Johannes zunächst wie gewohnt am Gebet zur Terz teil. Dann durchschritt er den Kreuzgang und betrat den Lesesaal.
Es war beeindruckend, wie viele Mönche hier tätig waren. An den Pulten mochten wohl an die dreißig mit dem Lesen oder Kopieren von Schriften beschäftigt sein. Ein erster flüchtiger Blick bestätigte Johannes die Kunstfertigkeit der Schreiber. Weit mehr als die Zisterziensermönche versahen sie ihre Bücher mit kunstvollen Ornamenten und Abbildungen. Die Anwesenheit des fremden Mönchs schien niemanden zu verwundern. Manch einer blickte auf, nickte Johannes grüßend zu, doch die meisten blieben konzentriert bei ihrer Arbeit. Thomas, der Magister, hatte den Gast bemerkt, kam auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich.
«Johannes, habt Ihr doch den Weg in unsere Bibliothek gefunden? Das freut mich.»
«Auch ich bin froh, einmal die Gelegenheit zu haben», antwortete Johannes. «Die Ausbildung hat mir bislang keine Zeit gelassen.»
«Ich hörte davon. Ihr Templer tut seltsame Dinge. – Aber offensichtlich wollt Ihr die Bücher nicht vernachlässigen. Und dabei helfe ich Euch gern. Welche Schriften konntet Ihr in Eurem Kloster studieren?»
«Das waren Evangeliare, Predigtsammlungen, Traktate der Kirchenväter, die Carta Caritatis der Zisterzienser.»
«Habt Ihr auch Neueres lesen können?»
«Wie meint Ihr?»
«Es gibt Magister, die die heiligen Schriften und die Werke der Kirchenväter nicht nur studiert haben, sondern auch deuten. Sie versuchen,
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