Das Vermächtnis des Templers
erkennen, der damals gegangen war? Würde alles noch so sein, wie er es verlassen hatte?
Die Glocke zur Vigil unterbrach seine Gedanken.
Am nächsten Morgen fand er sich wieder in der Bibliothek ein. Thomas hatte ihm zwei Werke des Anselmus, eines ehemaligen Abtes von Canterbury, ausgewählt, «De veritate» und «Monologion». Im ersten Buch entdeckte Johannes ein ihm bislang unbekanntes Thema. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob die Gattungsbegriffe, die Universalia, also etwa der Tisch oder das Rind, nur in den Gedanken des Menschen vorhanden seien oder ob sie unabhängig vom Bewusstsein des Menschen existierten. Platon habe gelehrt, dass angesichts der Vergänglichkeit der Dinge die Allgemeinbegriffe dauerhafter und wirklicher seien als die realen. Das Schöne an sich sei also dauerhafter und wirklicher als ein realer schöner Mensch.
Johannes fand diese Fragestellung allein deshalb interessant, weil ihn der Gedankengang Platons verblüffte. So hatte er die Dinge noch nie gesehen. Er las weiter: Anselmus versuchte Platons Vorstellung aufzunehmen und mit dem Glauben zu verbinden. Alles Leben sei nur dadurch wahr, dass es in der höchsten Wahrheit gründe, in Gott. Gott, die Wahrheit des Seins, sei die Bedingung der Wahrheit der Erkenntnis. Glaube müsse also der Erkenntnis vorausgehen.
Als er das Buch geschlossen hatte, war sich Johannes nicht sicher, was er von dieser Argumentation halten sollte. Sie war in sich stimmig. Aber traf sie auch auf die Wirklichkeit zu? In seinen täglichen Übungen hatte er gelernt, den Bogen absichtslos zu spannen. Doch war es der Bogen an sich, den er spannte? Oder jener ganz konkrete Bogen, der hier und jetzt darauf wartete, gespannt zu werden? Die Erfahrung der letzten Tage lehrten ihn, dass Anselmus von Canterbury Unrecht hatte. Den konkreten Bogen galt es zu spannen. Johannes war sicher, dass jeder andere Bogen auf jeweils ganz eigene Weise reagieren würde.
Johannes schlug das Buch zu. Dieser Anselmus war offensichtlich beseelt vom Vertrauen in die Vernunft, die solche Schlussfolgerungen ziehen konnte. Er verstand nun den Unwillen des heiligen Bernhard gegenüber manchen Spitzfindigkeiten der Vernunft etwas besser. Zwar dachte Anselmus in sich schlüssig, fraglich blieb nur, ob das Instrument, das er anwandte, die Vernunft, in der Lage war, die Wirklichkeit adäquat in sich abzubilden.
Er verließ die Bibliothek mit dem Vorsatz, den Rest des Tages kein Buch mehr aufzuschlagen und sich ganz den Stundengebeten und der bewussten Atmung zu widmen.
Am folgenden Tag ertappte sich Johannes kurz bei dem Gedanken, ohne Jacques das Bogenschießen zu üben. Doch dann gab er diese Überlegung wieder auf, wurde ihm doch klar, wie wichtig die Hilfestellungen und die Anleitung des Meisters waren. So verbrachte er die Zeit zwischen den Stundengebeten erneut in der Bibliothek. Er hatte Thomas seine Leseerfahrungen des letzten Tages geschildert. Dieser meinte, es gäbe wohl schwerlich einen Magister, der zwischen den Gedanken des heiligen Bernhard und des Anselmus vermitteln könne. Zu deutlich seien die grundlegenden Unterschiede. So wählte er für seinen Gast Bücher des Pierre Abaelard aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Abaelard und Bernhard zu Lebzeiten Feinde gewesen seien. Dieser Abaelard sei ein großer Rhetoriker gewesen und habe als Lehrer in verschiedenen Kathedralschulen viele Anhänger gefunden. Außerdem sei er damals eine Liebesaffäre mit einer Schülerin eingegangen, die viel Aufsehen erregt hätte. Bernhard habe gegen ihn ein Inquisitionsverfahren eingeleitet, weil seine Deutungen des christlichen Glaubens der Lehre der heiligen Kirche widersprachen.
All diese Informationen machten Johannes neugierig auf Abaelard. In einem Buch mit dem Titel «Dialog» konfrontierte der Autor den Leser nicht nur mit der Forderung, dass alles Nachdenken über Gott einer sprachlichen und methodischen Kritik unterzogen werden solle, sondern dass die Kirche für den Suchenden allenfalls eine vorläufige Autorität sein könne. Nicht Bibelsprüche und Wunder sollten den Gläubigen leiten, sondern seine Vernunft.
Johannes war schlagartig klar, warum die Kirche auf Abaelard reagieren musste. Aber auch unabhängig davon erschien ihm die Betonung der Vernunft als einzig möglicher Weg zu Gott einseitig. Hier zeigte sich offenbar der Stolz eines Mannes, der sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst war.
Etwas skeptisch nahm sich Johannes den zweiten Band, den Thomas ihm auf das Pult gelegt
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