Das Vermächtnis des Templers
Manuskripte sorgfältig abgelegt waren. Der Abt wandte sich erneut Johannes zu.
«Jacques sagte mir, dass Ihr ein Freund der Bücher seid. Unsere Bibliothek wird Euch sicher interessieren. Es ist die weitaus größte in der Normandie.»
Er winkte einen der Mönche heran, einen schlanken, hochgewachsenen Mann mit fast weißem Haar, der, als er herüberkam, das rechte Bein etwas nachzog.
«Das ist Thomas. Er beaufsichtigt die Bibliothek und kann Euch einen Überblick verschaffen.»
Johannes verbeugte sich vor dem Magister. Der tat es ihm nach und sprach ihn in jener fremden, aber melodischen Sprache an, die schon der Abt verwendet hatte. Als er bemerkte, dass der Junge nicht reagierte, wechselte er ins Lateinische.
«Ihr kennt unsere Sprache nicht. Aber das soll Euch nicht verunsichern. Ihr werdet die Bedeutungen schnell heraushören. Und bis dahin hilft Euch das Lateinische. Es ist die Sprache der Gebete und der Bücher.»
«So ist es», antwortete Johannes ebenfalls in fließendem Latein. «Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir einen Einblick in Eure Schriften gewährt.»
«Es wird sicher noch viel Zeit sein, deine Studien zu vertiefen», unterbrach Jacques. «Lasst uns weitergehen.»
Sie verließen die Bibliothek. Der Abt führte seine Gäste den Kreuzgang entlang zum Refectorium, zur Wärmestube und in die Schlafräume im Obergeschoss, wo er Johannes ein Bett zuwies.
«Ihr werdet einige Wochen unser Gast sein, Johannes. In dieser Zeit solltet Ihr wie alle Mönche an den Stundengebeten und den Essenszeiten teilnehmen. Es sei denn, Euer Meister hat anderes mit Euch vor.»
Er blickte lächelnd zu Jacques.
«Sicherlich werden wir manchmal nicht zugegen sein», sagte der. «Aber wann immer es möglich ist, wird es uns eine Ehre sein, mit Euch zu beten, ehrwürdiger Columbanus. Einige Tage muss ich in Rouen verbringen, und so freut es mich umso mehr, wenn Ihr Johannes Zugang zu der in aller Welt gelobten Bibliothek von Jumièges gewährt.»
«Wir freuen uns immer, wenn ein wahrhafter Freund der Bücher unsere Schätze zu würdigen weiß», entgegnete der Abt. «Lasst uns nun zur Stille finden. Euer Ritt wird anstrengend gewesen sein.»
Die beiden Männer ließen Johannes allein. Er legte die wenigen Dinge, die er bei sich trug, hinter dem Kopfende des Bettes ab und gönnte sich etwas Ruhe. Es war ihm noch immer unklar, warum Jacques ausgerechnet diesen entlegenen Ort gewählt hatte. Und er konnte sich ebensowenig vorstellen, was in den nächsten Wochen geschehen würde. Doch zugleich verspürte er in diesem Kloster ein Stück Heimat. Vieles kam ihm sofort vertraut vor. Und er war zufrieden bei dem Gedanken, dass er nach den Strapazen der Reise nun einige Tage in den ruhigen, überschaubaren Bahnen eines Klosters leben durfte.
Als Johannes die Glocke hörte, begab er sich in den Kreuzgang. Er blickte zum Dach der Klosterkirche hinauf und bemerkte erst jetzt, dass sich über der Vierung ein weiterer Turm erhob, der denen der Westfassade an Höhe in nichts nachstand. Von dort oben rief eine tiefe, mächtige Glocke die Mönche zum Gebet.
Johannes betrat die Kirche. Von den Emporen des Langhauses drang aus schwindelerregender Höhe das letzte Licht des Tages in den Raum. Er bemerkte an der Decke ein Blendgewölbe aus Holz. Dann wandte er den Blick zur Rechten und zur Linken. Quadratische Pfeiler und runde Säulen wurden durch Rundbögen zu einer Reihe verbunden und trennten das Mittelschiff von den beiden Seitenschiffen. Johannes betrat den Chor, in dem sich die Mönche zum Gebet versammelt hatten. Dieser Chorraum besaß einen Umgang und war im Gegensatz zu allem, was er in diesem Kloster gesehen hatte, im neuen Stil errichtet. Der Gesang setzte ein. An der Form des Ingressus erkannte Johannes, dass nun die Stunde der Vesper gekommen war. Psalmgesänge, Antiphone, Responsorien und Hymnus unterschieden sich kaum von dem, was ihm seit vielen Jahren vertraut war. Und so hörte er auch das Magnificat, das im Chorraum leise nachhallte: Großes hat mir der Mächtige getan und heilig ist sein Name und seine Barmherzigkeit währet von Geschlecht zu Geschlecht.
Der erste Tag in der Abtei Jumièges verlief für Johannes erholsam. Während der Stundengebete und Mahlzeiten begegnete er Jacques, doch der sprach nur wenig mit ihm. So blieb viel Zeit, um Schlaf nachzuholen. Während der Mußestunden erinnerte sich Johannes der verschiedenen Etappen seiner Reise, der Begegnungen mit Menschen, die ihm wohlgesinnt gewesen waren: der
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