Das Vermächtnis des Templers
die Bäume fuhr, verblassten so weit, dass er sie kaum mehr wahrnahm. Bald empfand er die Atmung als eine Hülle, die ihn vor allem Ablenkenden schützte. Jacques versicherte ihm, dass sich diese Erfahrung mit zunehmender Übung immer schneller einstellen würde. Er verglich es mit jener Praxis, die Johannes bereits aus der Kontemplation kannte. Die Konzentration auf den Atem half, Gefühle, Stimmungen, Wünsche, Sorgen, selbst hartnäckige Gedankenzüge loszulassen.
Johannes dachte über dieses Bild nach.
«Aber der Schütze hat doch eine Absicht», entgegnete er. «Als Krieger muss er in bestimmten Situationen reagieren.
Und nicht nur das. Er handelt bewusst. Aber es wird dennoch eine Handlung der Absichtslosigkeit sein.»
«Ist das nicht ein Widerspruch?», fragte Johannes.
Jacques lächelte.
«Für dein Denken und deine Sprache ist es ein Widerspruch», antwortete er kurz. «Alles andere lässt sich nur erspüren.»
«Dann ist es so, wie Abaelard sagt? Dass wir die Wahrheit nur als Offenbarung erfahren?»
Jacques blickte erstaunt auf.
«Nun, wenn du ihn gelesen hast, weißt du auch, dass er sehr viel von unserem Verstand hielt, nicht aber von der Mystik.»
«Und er war ein Feind Bernhards.»
«Richtig. Aber das ist lange her. Seitdem ist vieles anders geworden.»
«Wie meint Ihr das?»
«Die Krieger des Ordens der Templer haben seitdem die gesamte bekannte Welt bereist. Das blieb nicht ohne Folgen. So wie auch deine Reise nicht ohne Folgen bleiben kann. Vieles hat sich geändert.»
«Ihr sprecht in Rätseln.»
«Ja, es wird Zeit, dass ich dir endlich etwas über die Templer erzähle. Aber lass uns erst weiterreiten. Wir haben unser Ziel bald erreicht.»
Bevor sie ihre Pferde bestiegen, tauschte Jacques die Kutte des Mönchs gegen den weißen Mantel der Templer. Dann setzten sie ihren Ritt fort.
Entlang des Flusses kamen sie nun durch kleinere Ortschaften. Die Menschen, denen sie begegneten, zeigten ihren Respekt, indem sie auf dem Boden knieten und sich verbeugten. Johannes waren diese Ehrbezeugungen unangenehm, und er war froh, wenn sie das jeweilige Dorf wieder verlassen hatten. Auf dem Wasser konnte man immer wieder Boote beobachten, die flussabwärts unterwegs waren oder gegen den Strom segelten. Vieles erinnerte an die Weser. Selbst die Pflanzen- und Tierwelt ließ ihn an die Heimat denken. Er beobachtete Hasen und Kaninchen, sah Schafe und Rinder auf der Weide, erkannte Greifvögel, die hoch oben in der Luft ihre Kreise zogen, und auch die weitläufigen Weizen- und Roggenfelder waren ihm vertraut. Bislang hatten sie sich in westlicher, dann in südlicher Richtung bewegt. Nun machte der Fluss einen deutlichen Bogen, der nach Nordosten führte. Am Nachmittag bemerkte Johannes in der Ferne einen Gebirgszug, auf dem sich offenbar eine mächtige Verteidigungsanlage erhob. Das war ein ungewöhnlicher Anblick, denn er hatte weder auf der Reise vom Meer nach Jumièges noch am heutigen Tag nennenswerte Anhöhen bemerkt. Auch solch gewaltige Burgmauern waren ihm unbekannt.
«Das ist unser Ziel», sagte Jacques. «Château Gaillard.» «Was haben wir dort zu tun?», fragte Johannes.
«Wir werden dort das Bogenschießen üben …»
Jacques blickte seinen Schüler an und musste lachen. «… aber du wirst natürlich fragen, warum wir das gerade
dort tun wollen. Viele hochrangige Templer kommen in diesen Tagen nach Château Gaillard zu einem Konvent. Wundere dich also nicht, wenn du von nun an von weißen Mänteln und roten Tatzenkreuzen umgeben bist. Aber wir werden auch genug Zeit haben, das Bogenschießen zu üben.»
«Um was geht es auf diesem Konvent?»
«Es ist mir nicht erlaubt, einem Uneingeweihten alles zu erzählen. Nur so viel: Der Orden ist in den letzten Jahren in Konflikt mit dem französischen König geraten. Es geht um Macht und um Reichtum. Die Templer haben Philipp große Summen geliehen. Nun weigert er sich, seine Schulden zu begleichen. Im Gegenteil. Er geht gegen den Orden vor. Streut Gerüchte aus und interveniert beim Heiligen Vater in Rom.»
«Und deshalb treffen sich die Templer auf einer Burg?»
Wieder musste Jacques lachen.
«Nun, eine Burg wie diese kann vor bösen Überraschungen schützen. Château Gaillard ist vor etwa hundert Jahren von Richard Löwenherz erbaut worden, um die Normandie gegen den französischen König Philipp II. zu verteidigen, mit dem er immerhin gemeinsam einen Kreuzzug angeführt hatte. Doch aus Freunden wurden erbitterte Feinde. Und Richard verlor diesen Krieg.
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