Das Vermächtnis des Templers
in einem Traum … Er erhob sich von seinem Lager und griff sich den Mantel, da es sehr kalt war. Um sich erblickte er die schlafenden Brüder, die sich wie er nach der Komplet zur Ruhe gelegt hatten. Etwas trieb ihn voran, ließ ihn die Stufen hinabgehen, leitete ihn in den Kreuzgang. Der Klosterhof war in Mondlicht getaucht. Johannes vernahm kein Geräusch, mit Ausnahme des Knirschens unter seinen Sohlen. Trotz der klirrenden Kälte durchfuhr ihn ein Gefühl tiefen Gelöstseins und großer Dankbarkeit. Er betrat den Kapitelsaal, in dem eine einzelne Kerze brannte. Johannes kniete zu Boden und betete, der Kälte zum Trotz, eine Zeitlang das Kyrie. Dann stand er auf, bekreuzigte sich und verließ den Raum, erreichte kurz darauf die Klosterkirche, die durch einige Kerzen im Chorraum erhellt war, um die Vierung zu durchqueren und auf der gegenüberliegenden Seite durch jenes kleine Tor das Kloster zu verlassen, durch das die Toten zum Friedhof getragen werden. Er schritt ins Freie und empfand auch hier die klirrende Kälte als erfrischend und befreiend, spürte, wie der kalte Atem in ihn eindrang und ihn ganz erfüllte. Dann sah er, wie ein Rabe vor ihm niederging und sich auf eines der Holzkreuze setzte. Der Rabe neigte seinen Kopf zur Seite, als warte er auf etwas, das nur von Johannes ausgehen konnte. Und tatsächlich, als Johannes seinen Arm hob, wie es die Falkner tun, schwang sich der Rabe mit wenigen Schlägen herüber, krallte sich gewichtslos in den braunen Ärmel und blickte Johannes für einen Moment an. Wieder legte er seinen Kopf zur Seite, verharrte einen kurzen Augenblick und erhob sich dann in die Lüfte, um über die hohen Bäume des Friedhofs ins Nichts zu verschwinden. Etwas zog Johannes’ Blick zur Klostermauer hin. In der geöffneten Pforte stand sein Vater und winkte ihm zu. Johannes bemerkte für einen Moment die eigene Bewegungsunfähigkeit. Beim zweiten Blick zur Mauer war die Pforte geschlossen, niemand mehr zu sehen. Etwas ließ ihn weitergehen, den Friedhof entlang zu den Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. Eis knirschte unter seinen Sohlen. Der vom Vollmond erleuchtete Raureif in den Bäumen schimmerte und geleitete ihn als schwache, unwirkliche Beleuchtung, als würde er sich auf den Weg machen in ein unbekanntes feingewebtes Feenreich. Er betrat eine Schmiede, in der das Feuer noch brannte. Wärme erfüllte den Raum. Johannes zog ein rotglühendes Schwert aus den Flammen und gab ihm auf dem Amboss mit schweren Schlägen eine grobe Struktur. Dann wurden die Schläge schwächer, gezielter. Noch einmal hielt er das Schwert ins Feuer, um es danach mit ungeteilter Sorgfalt in seine endgültige Form zu bringen. Als er sein Werk in die Höhe hielt, um es im Schein des Feuers zu betrachten, spürte er, dass jemand in den Raum gekommen war. Nur langsam konnte er sich umwenden. Er sah dort eine junge Frau stehen, die ihn – so war er sicher – schon eine Weile beobachtet hatte. Das Feuer hüllte ihr langes weißes Gewand und ihre ebenmäßigen Gesichtszüge in rotgoldenen Schein. Für einen Moment hielt sie seinem Blick stand, dann wandte sie sich ab und lief eilig davon. Johannes sah nur mehr ihr schulterlanges schwarzes Haar dahinwehen. Schnell folgte er ihr, doch draußen vor der Schmiede sah er nichts als eine hellschimmernde Allee. Auf einem der Bäume bemerkte er den Raben, der sich bei seinem Anblick in die Luft erhob.
Johannes erwachte, als Jacques ihn wachrüttelte. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar geworden war, dass er sich nicht in Loccum befand, sondern auf Château Gaillard. Er nahm die Wärme wahr, die von außen in das kleine Zimmer drang, blickte auf und sah, dass Jacques über die Bücher auf dem kleinen Tisch gebeugt war.
«Hast du in der Nacht gelesen?», fragte er.
Johannes richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante. «Die Regeln habe ich gelesen, aber zu den Kommentaren bin
ich nicht mehr gekommen.»
«Das ist vielleicht auch gar nicht nötig. Ich kann dir alles
Wichtige auch unterwegs erläutern.»
«Unterwegs?», fragte Johannes ungläubig.
«Ja. Wir reisen heute ab», sagte Jacques geradezu beiläufig. «In den Kommentaren steht Genaueres zum Aufbau des Ordens, zur Verwaltung des Vermögens, zu den Komtureien und Templerwegen. Also Wissen, das nur für Templer bestimmt ist.
Ich werde es dir unterwegs mitteilen.»
Jacques blickte ihn an.
«Aber es ist noch etwas Zeit. Wir sollten sie nutzen.» Nachdem sie sich mit Haferbrei und klarem, kühlem
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