Das Vermächtnis des Templers
Gästehaus stiegen sie vom Pferd, gaben die Tiere in die Obhut zweier Bauern, die sofort herbeigeeilt waren, und betraten das Gebäude. Im Inneren des Steinhauses war es angenehm kühl. Jacques wies seinem Schüler ein Zimmer zu und verschwand, um seine eigenen Habseligkeiten abzulegen. Gemeinsam gingen sie kurze Zeit später zur inneren Mauer, durchquerten eine weitere Pforte und betraten jenen Bereich der Anlage, in dem sich das große Haus, die Brunnenanlage und ein nur durch Grünflächen angedeuteter Kreuzgang befanden. Die Glocke am Giebel des Hauses ertönte, aber nicht, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, sondern um zum Stundengebet zu rufen, denn einige Ritter, die sich am Brunnen aufgehalten hatten, kamen nun zum Haus zurück, begrüßten Jacques und seinen Schüler herzlich und begleiteten sie ins Innere des Gebäudes, in dem sich eine kleine Kapelle befand, die von einem einzelnen Fenster spärlich erleuchtet wurde. Nacheinander traten die Ritter herein, sammelten sich zunächst in einem stillen Gebet, um dann gemeinsam die Gesänge der Non anzustimmen, die Johannes gut bekannt waren. Hymnus, Antiphon, Responsorium – sie ließen ihn in ihrem ununterbrochenen rhythmischen und melodischen Wechsel einmal mehr die Zeitlosigkeit erfahren. Zum Ende der Hora baten die Mönche um die Aussendung des Lichts und der Kraft für die nun folgenden Stunden der Dunkelheit. Dann gingen sie hinaus, um zu schweigen, jene innere Musik zu hören, die niemals vergeht, die Musik der Stille. Sie gingen hinaus, um allein zu sein und sich inmitten der Vergänglichkeit dem Einen zu öffnen. Wieder im Freien, schloss Johannes die Augen und horchte.
Eine Stunde später stand er mit Jacques auf der Lichtung außerhalb der Mauern. Die Sonne war bereits untergegangen, warf ein letztes, bald vergangenes Licht auf das Grün, so dass man die Dinge nur mehr in vagen Umrissen erkennen konnte. Jacques bat seinen Schüler, auf einen Baum am Waldrand zu achten, dessen Rinde zum Teil abgeschabt worden war. Johannes konnte einen solchen Baum nicht erkennen und musste bis zum Ende der Lichtung gehen, um sich davon zu überzeugen, dass es diesen Baum tatsächlich gab. Jacques forderte ihn nun auf, ihm mit einem Tuch die Augen zu verbinden und die folgende Übung genau zu beobachten. Johannes stellte sicher, dass sein Meister nichts mehr sehen konnte, und folgte dann gebannt seinen Bewegungen, was aufgrund der anwachsenden Dunkelheit nur bedingt möglich war. Dennoch bemerkte er sofort, mit welcher Kunstfertigkeit Jacques den Bogen spannte und die Sehne löste. Das Geräusch des einschlagenden Pfeils war eindeutig; er hatte sich ins Holz gebohrt. Dann nahm er die Binde ab und forderte seinen Schüler auf, den Pfeil zurückzuholen. Johannes ging zum Waldrand und entdeckte ihn in jenem Baum, den er zuvor schon näher betrachtet hatte. Der Pfeil hatte auf Schulterhöhe die Mitte des Stammes getroffen. Es war Johannes nicht möglich, ihn herauszuziehen, ohne ihn abzubrechen.
Der Pfeil hatte auch ihn getroffen. Als sie am nächsten Morgen weitergeritten waren und gegen Mittag eine Rast einlegten, bat Johannes darum, die Übungen wieder aufnehmen zu dürfen. Dabei gelang es ihm fast ebenso kunstvoll wie seinem Meister, den Bogen zu spannen und die Sehne selbstlos aus den Fingern gleiten zu lassen, doch nach wie vor wollte sich keine Treffsicherheit einstellen. Dennoch verzichtete Johannes von nun an darauf, irgendwelche Gedanken auf das Ziel zu verwenden, denn sein Meister hatte ihm eindrucksvoll demonstriert, dass bewusstes Sehen hier keine Rolle spielte. Mehr und mehr sagte ihm aber seine Intuition, wie wichtig es war, dass er mit dem Bogen seines Meisters schoss, denn er meinte, die führende Kraft dieses Bogens zu spüren, so als ob sich alle Kunstfertigkeit, die Jacques in diesen Bogen gelegt hatte, nun Stück für Stück auf ihn übertragen würde. Dies war eigentlich eine ganz ungewöhnliche Vorstellung, doch Johannes hatte in den letzten Wochen oft genug erlebt, dass es klug war, der eigenen Intuition zu folgen.
Auch an diesem Tag gelang ihm nicht der meisterliche Schuss. Doch das beunruhigte ihn nun nicht mehr. Stattdessen bat er seinen Meister, ihm all das über die Templer zu berichten, was er auf Château Gaillard nicht mehr in den Kommentaren hatte lesen können.
«Ich muss dir wohl zunächst etwas über den Ort sagen, an dem wir uns gestern aufgehalten haben», begann Jacques.
«Die Templer besitzen überall entlang der nördlichen
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