Das Vermächtnis des Templers
erhob sich langsam, blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen, um halbwegs zu sich zu kommen, und folgte dann seinem Begleiter die Treppenstufen hinab in den Eingangsflur des Hauses und in den Speisesaal.
Dort sollte er bleiben und warten.
Johannes war noch zu benommen, um über den Grund der nächtlichen Störung nachdenken zu können. All das schien ihm aber nicht beunruhigend zu sein. Erinnerungen taten sich auf: kurze Momente auf der Reise mit Jacques, als er im Zustand zwischen Schlafen und Wachen unmittelbar erspürt hatte, wenn er sich in einer gefährlichen Situation befand. Das Wissen um diese Gabe vermochte Johannes Vertrauen und Geduld zu verleihen. Auch jetzt, im Speisesaal des Ordenshauses, inmitten der Nacht, spürte er, dass es keinen Grund zur Sorge gab.
Bald wurden zwei Mönche hereingeführt, die sich schweigend neben ihn setzten. Johannes spürte ihre Unruhe.
Dann betrat der Abt den Raum.
«Heute ist eine besondere Nacht», begann er, nachdem er ebenfalls am Tisch Platz genommen hatte.
«Ihr seid auserwählt, eine weitere Einweihung zu erfahren.»
Er hielt kurz inne.
«Nur zu besonderen Anlässen feiern wir die Stunde der Vigil. Sie ist das erste Stundengebet des neuen Tages. Es ist die Zeit des Nachthimmels und der Dunkelheit. Die Nacht ist ein unergründliches Mysterium, in das wir alle eingebunden sind, das göttliche Rätsel. Es ist die Zeit der Einweihung.»
Der Abt erhob sich.
«Folgt mir!»
Gemeinsam verließen sie den Speisesaal und traten hinaus in den Garten. Der Himmel war sternenklar und die Luft kurz nach Mitternacht angenehm kühl. Als sie die Kapelle der Templer erreicht hatten, blieb Johannes vor dem Eingang stehen und schaute hinauf zum Giebel, auf dem die beiden steinernen Katzen verspielt Wache hielten. Dann blickte er zu den Gestirnen, fand am Südhimmel den Mars, verlor sich einen Moment im Anblick dieser unbegreiflichen Unendlichkeit, bis der Abt ihn unterbrach und zum Weitergehen aufforderte.
Die Kapelle war schwach erleuchtet. Sieben Mönche standen zwischen den Säulen und bildeten einen Kreis, durch den Johannes und seine beiden Begleiter geführt wurden, bevor der Abt sie aufforderte, niederzuknien und sich auf den Boden zu legen. Er selbst trat unmittelbar vor den Chorraum und begann zu sprechen.
«Brüder des inneren Kreises. Die Dunkelheit hüllt uns ein. Dämonen lauern uns auf. Dürfen wir hoffen? Bleibt mehr von uns als das Nichts? Ist dieser neue Tag geheiligt? Der Nachtwind ist die Stimme der Vigil. Er fordert uns auf, neu anzufangen. Die Vigil ist das Symbol des Erwachens. Aus der Welt des Schlafes, des Traumes führt sie in eine neue Wirklichkeit. Es gibt noch einen Neuanfang, einen neuen Tag.»
Die Mönche intonierten das große Kyrie. Am Boden liegend, unfähig, um sich zu blicken, nahm Johannes nichts als den Klang dieser Worte wahr, die die Kapelle erfüllten und von ihr in vielfältiger Weise zurückgeworfen wurden.
Nachdem das Kyrie verklungen war, begann der Abt erneut zu sprechen:
«Die Vigil ist Zeitlosigkeit. Weil so viel Verwirrung und Ruhelosigkeit in uns ist, mahnt sie zum Zuhören. Der Nachtwind ist Musik, der Klang der Welt. Die Vigil setzt einen Neubeginn, so wie Johannes es in der Offenbarung schreibt: ‹Siehe, ich mache alles neu.›»
Johannes hörte den eigenen Namen. Das ließ ihn aufmerken.
Dann erfüllte erneut der Gesang die Stille der Kirche.
Johannes konnte nicht sagen, wie oft er die Vigil gefeiert hatte, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Wieviel Vertrauen in diesem Stundengebet lag. Konnte man einem Neuanfang so sehr vertrauen? Gehörte zum Neuanfang nicht immer auch der Schmerz? Die Angst? Der Zweifel? Aber was würde bleiben, wenn nicht das Hoffen?
Nachdem die letzten Worte der Lesung verklungen waren, forderte der Abt die drei Brüder auf, sich vom Boden zu erheben und ihm in den Chorraum zu folgen.
Johannes bemerkte erst jetzt, dass auch hier Kerzen aufgestellt worden waren. Zum ersten Mal sah er den Altar, der sich an der östlichen Wand des kleinen, rechteckigen Raumes befand. Der Abt blieb zwei Schritte davor stehen, drehte sich um und forderte die drei erneut auf niederzuknien.
«Wenn wir zusammenkommen», sprach er, «um zu Gott zu beten, muss uns deutlich sein, dass wir die Mauern unserer Kirche haben, um an ihnen zu wachsen. Die Mauern unserer Kirche haben als Fundament Christus. Auf diesem Fundament sind fest gefügt die Apostel und all jene, die durch sie geglaubt haben sowie glauben werden. Wir fügen am heutigen Tage
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