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Das Vermächtnis des Templers

Das Vermächtnis des Templers

Titel: Das Vermächtnis des Templers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Andreas Marx
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bis unten genauestens zu mustern, tat dies aber auf eine Weise, die nicht verletzend war, sondern eher von einer fast kindlichen Neugier geleitet schien.
    «Diese Schuhe», begann Johannes zögernd, «sie fallen fast auseinander. Könnt Ihr sie reparieren?»
Die junge Frau nahm sie entgegen, legte sie auf den Tresen, drehte sie hin und her, betrachtete die Sohle, blickte Johannes an, wandte sich wieder ab, prüfte die Festigkeit des Leders und sah erneut auf.
«Ihr beherrscht unsere Sprache schon ganz gut», sagte sie. «Aber Ihr müsst von sehr weit her gekommen sein.»
Erneut blickte sie prüfend auf die Schuhe vor sich.
«Eigentlich solltet Ihr neue kaufen», fuhr sie fort, überlegte kurz, schien dann aber doch ihre Meinung zu ändern.
«Gebt mir zwei Tage. Dann habe ich sie wohl fertig.»
«Das ist gut», sagte Johannes. Er blieb zunächst stehen, sah sie an und wusste in seiner Unbeholfenheit nichts anderes, als ihr zuzunicken und dann davonzugehen.
Nach wenigen Metern wandte er sich um.
«Werdet Ihr in zwei Tagen hier sein?», fragte er.
Die junge Frau betrachtete ihn noch immer neugierig und amüsiert zugleich.
«Aber ja», sagte sie und strich sich eine der Strähnen zur Seite, die ihr über die Augen gefallen war.
«Sollte ich nicht im Haus sein, fragt nach mir. Mein Name ist Marie.»
Non
    Johannes sitzt im Kreuzgang, dort, wo er gewöhnlich Platz findet, wenn er Stille sucht, unterhalb des steingewordenen Adlers, der ein Junges in seinen Klauen führt. Die Kopfschmerzen und das Fieber sind wieder stärker geworden. Deshalb hat er den Prior gebeten, auch in dieser Stunde die Gesänge und Gebete zu leiten. Ein Blick zum Innenhof macht ihm bewusst, dass die Sonne nun am späten Nachmittag wieder tiefer steht. Die Schatten werden länger. Das Licht nimmt ab. Der Tag wird vergehen.
    Und so gedenken die Mönche in dieser Stunde des Todes Jesu und des eigenen Todes. Die Frühe des Tages war geprägt von der Kraft des Aufbruchs. Nun begegnen die Mönche der Einsicht, dass nichts im Menschenleben ewig währt. Der Tag neigt sich dem Ende zu, heißt es im Hymnus zur Stunde der Non. Die Zeit schwindet dahin. Alles vergeht. Die Botschaft der Non ist, dass Tod und Vergänglichkeit untrennbar mit dem Leben verbunden sind. Nach dem Gottesdienst werden die Mönche ebenfalls in den Kreuzgang kommen, ihren Platz aufsuchen und in schweigendem Gebet versinken. Sie werden allein sein.
    Johannes erinnert sich, dass er vor einigen Jahren eine Sprachwendung entdeckt hat. In der Kontemplation ist der Mönch allein, er ist All-ein. In der Einsamkeit vergegenwärtigt sich der Mönch das Alleinsein mit dem Tod, er ist konfrontiert mit dem All-Einen. In dieser Stunde bittet er um ein friedvolles, gesegnetes, würdevolles Sterben. Er wünscht sich, dass der Tod das Leben ganz macht, das Erlebte abrundet und schließt, mehr als bloße Auflösung sein wird. Vor vielen Jahren, am Beginn seiner Einweihungen, hat Jacques ihm nahegelegt, sich den Tod zum Berater zu machen. Dankbar erinnert sich Johannes daran zurück, auch und gerade in diesem Augenblick, wo die Schatten länger werden. Er hat gelernt, sich dem Augenblick hinzugeben, immer mehr, immer bewusster – vielleicht die einzige Weise, dankbar und umsichtig mit dem Leben umzugehen. Mit dem Tod Aug in Aug zu leben bedeutet, sich dem Leben zu öffnen. Je wacher und intensiver wir leben, desto leichter fällt es uns, loszulassen. Unsere Angst vor dem Tod ist dann am größten, wenn wir nicht im Augenblick leben. Davon ist Johannes überzeugt.
    Die Mönche kommen nacheinander in den Kreuzgang zurück, unterbrechen seine Erinnerung. In der Klosterkirche haben sie zu Gott gebetet, er möge sein Licht und seine Kraft auch in die Stunden des Schattens aussenden. Ihre Gesänge – Hymnus, Antiphon, Responsorium – haben in ununterbrochenem rhythmischem und melodischem Wechsel die Zeitlosigkeit hörbar werden lassen. Nun gehen die Mönche hinaus, um zu schweigen, jene innere Stille zu hören, deren Klang niemals aufhört. Sie gehen hinaus, um allein zu sein, sich dem All-Einen zu öffnen, sich der Vergänglichkeit ihres Daseins zu stellen. Johannes schließt die Augen und horcht…

6. Kapitel
    Unsanft wurde Johannes die Decke weggezogen. Er öffnete mühsam die Augen. Dabei war ihm, als habe er sich gerade erst zur Ruhe gelegt. Die Stunde der Vigil konnte noch nicht gekommen sein.
    Er blickte den Mönch an, der ihn soeben aus dem Schlaf geholt hatte. Der drängte erneut zur Eile. Johannes

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