Das Vermächtnis des Templers
diese Mauern zusammen, die immer weiter gebaut werden bis an das Ende der Welt. Ein jeder der Heiligen, der von Gott für ein ewiges Leben bestimmt wurde, ist ein Stein dieser Mauer. Ein Stein wird auf den Stein gelegt, wenn die Lehrer des Ordens Jüngere zu eigenem Studium heranziehen, zum Lehren, zum Verbessern und zum Festigen der heiligen Kirche. Ein jeder hat unter sich einen Stein, der eine brüderliche Last trägt. Die größeren Steine, sowohl die geglätteten wie die Quader, die als Außenschale auf beiden Seiten vorgesetzt werden, sind die vollkommenen Männer, die die schwächeren Brüder durch ihre Ermahnungen und Gebete bewahren. Die Festigkeit der Mauer kann ohne Mörtel nicht sein. Mörtel besteht aus Kalk, Sand und Wasser. Der siedende Kalk ist die Liebe, die sich mit dem Sand verbindet. Damit aber Kalk und Sand tauglich für den Bau der Mauer sind, werden sie durch die Beimengung von Wasser verbunden. Das Wasser ist der Heilige Geist. Denn so, wie ohne Mörtel die Steine der Mauer nicht fest miteinander verbunden werden können, so können wir Menschen nicht zum Gebäude des himmlischen Jerusalem verbunden werden ohne Liebe, die der Heilige Geist erwirkt.»
Der Abt schwieg für einen Augenblick.
«Es ist an euch, das letzte Geheimnis zu finden. Gehet als Suchende in die große Kathedrale und verlasst sie als Wissende. Alles was ihr je gesucht habt und je wissen könnt, findet ihr dort.»
Der Abt forderte die drei Mönche auf, sich zu erheben.
«Stehet auf und macht euch ein letztes Mal auf die Suche!»
Gemeinsam verließen sie den Chorraum. Die Brüder des inneren Kreises ließen das Benedicamus erklingen. Der Abt wartete, bis die Mönche den Gesang beendet hatten, hob seine Arme, öffnete sie gen Himmel und erteilte den Segen. Johannes spürte, dass er zu lange geschlafen hatte. Zugleich wirkte in ihm die Erinnerung an einen Traum dieser Nacht: Ziellos war er über den Markt gegangen, unwissend, was er hier tun sollte. Dann hatte er an einem der Stände Marie bemerkt. Sie lächelte ihm freundlich zu. Eine ganze Weile war er von ihrem Anblick gefesselt gewesen, von der Leichtigkeit und Natürlichkeit ihrer Gesten und Bewegungen, von der selbstverständlichen Freundlichkeit, mit der sie den Kunden begegnete und dennoch immer wieder zu ihm hinübersah, so als sei ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuneigung doch nur ihm gewidmet. Plötzlich hatte er etwas hinter sich verspürt, das bedrohlich sein musste. Doch er war unfähig gewesen, sich umzudrehen und sich diesem Bedrohlichen Auge in Auge zu stellen.
Es war Alanus, der ihn vorsichtig weckte.
«Zur Laudes und zur Prim haben wir dich schlafen lassen», sagte er vorsichtig. «Aber jetzt solltest du aufstehen. Ich brauche dich im Scriptorium.»
Alanus wartete, bis Johannes zu sich gekommen war. Dann gingen beide hinab in den Speisesaal, wo die Brüder Essen zurückgestellt hatten. Heute war es ein einfacher Hirsebrei. Alanus goss Johannes Wasser in den Tonbecher und leistete ihm während der Mahlzeit schweigend Gesellschaft. Erst im Scriptorium sprach er ihn wieder an.
«Hast du schlecht geschlafen?», wollte er wissen.
«Nur ein Traum», antwortete Johannes.
Alanus schwieg einen Moment.
«Hatte es etwas mit der Einweihung zu tun?», fragte er.
Johannes schüttelte den Kopf.
«Die Einweihungszeremonien unseres Ordens erfassen den Menschen in seinem ganzen Wesen», sagte Alanus. «Sie sind machtvoll und bewirken, dass alles, was ungelöst in uns geblieben ist, hervortreten kann.»
«Hast du diese letzte Einweihung auch erhalten?» «Ja. Das war vor zwei Jahren.»
«Und? Hast du sie verstanden?»
Alanus lächelte.
«Du möchtest wissen, ob ich das Geheimnis der Templer entdeckt habe?»
Johannes nickte.
«Dieses Geheimnis erfährt jeder von uns auf ganz eigene Weise. Selbst wenn es mir bekannt wäre, könnte ich es dir nicht mitteilen.»
«Warum?»
«Es ist eine Sache des eigenen Erfahrens, der eigenen Einsicht», fuhr Alanus fort. «Du musst dieses Geheimnis im Innersten erspüren. Der Abt hat dich gestern erneut ausgesandt. Er hat dich in deiner Suche bestätigt und dir einige wenige Hinweise gegeben, die dir auf deiner letzten Etappe hilfreich sein können. Nun wirst du dich auf den Weg machen. Es ist der Weg zum letzten Geheimnis, jenem Geheimnis, das nur wir Templer bewahren. Du bist längst auf diesem Weg gegangen. Jetzt beginnt die letzte Einweihung. Und niemand kann dir sagen, wie lange sie dauern wird und ob du jemals ankommst. Es liegt an dir, aber es
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