Das Vermächtnis des Templers
Aufmerksamkeit von den Gebeten und Gesängen ab und richtete sie ganz auf die äußerliche Beschaffenheit der kleinen Kapelle. Auch hier waren es die Steine, die das Gebäude trugen. Auch hier waren es die Säulen, die in ihrer Zahl auf die Vollkommenheit der Schöpfung deuteten. Auch hier gab es den Chorraum, der für das künftige Jerusalem stand, an dem sie alle bauten, dessen Steine sie waren. Und dennoch hatte der Abt nicht von diesem Raum gesprochen, sondern ausdrücklich von der Kathedrale. Vielleicht hatte er damit nicht nur die Kathedrale von Laon gemeint. Vielleicht war dieses Geheimnis in jeder Kathedrale zu finden. Aber nicht in dieser kleinen Kapelle, die allein dem Orden gehörte. Die Templer versteckten ihr Geheimnis so, dass es bei ihnen selbst niemand entdecken konnte. Das erschien auf den ersten Blick seltsam, bei näherem Nachdenken aber sehr klug.
Johannes hörte wieder auf die Gesänge der Komplet. Diese Stunde symbolisierte den Übergang von der Nachtwache in den Schlaf. Sie verband das Ende des Tages mit dem Ende des Lebens. Die Komplet machte deutlich, dass das Leben und der einzelne Tag einen verwandten Rhythmus hatten. Zugleich wusste Johannes, dass die Komplet für die Mönche mit dem endgültigen Übergang in die Dunkelheit verbunden war. Er kannte dieses Gefühl der Unsicherheit und Angst seit seiner Kindheit. Eine Angst, die bis in die entferntesten Winkel der Seele gelangte. So baten die Mönche zu dieser Stunde in ihren Gesängen und Gebeten um Vergebung. Sie baten Gott um Schutz und Geborgenheit, darum, dass er sie nicht ins Chaos, nicht ins Nichts fallen lassen werde. Der Ungewissheit der Nacht, der Ungewissheit angesichts des unausweichlichen Todes stellten sie ihr Vertrauen entgegen. Die Hymne der Komplet brachte beides zum Ausdruck: Angst und Vertrauen. Am Ende des Gottesdienstes sangen die Mönche gemeinsam das Salve Regina. Sie erbaten einen ruhigen Schlaf und gute Träume, wohlwissend, dass vieles davon abhängen würde, wie sie einschliefen, und sie hatten sich den ganzen Tag auf diesen Übergang vorbereitet, hatten alles getan, um reinen, kindlichen Geistes zu sein.
Dann war Schweigen. Doch die Worte, die Klänge des Tages reichten in die Dunkelheit und das Schweigen hinein. Die Stille ließ den Raum hörbar werden.
Am nächsten Morgen machte sich Johannes auf den Weg zum Markt. Wie schon zwei Tage zuvor tauchte er ein in das Gedränge der vielen hundert Menschen. Heute waren Gaukler gekommen, die einen großen Braunbären mitgebracht hatten. Gebannt beobachteten die Menschen das Tier, das sie wohl nur aus abenteuerlichen Erzählungen kannten und heute vielleicht zum ersten Mal mit eigenen Augen erblickten. Johannes ließ sich nicht lange davon gefangen nehmen. Diesmal kannte er sein Ziel und fand die Gasse der Schuhmacher schnell wieder. Auch hier herrschte geschäftiges Treiben. An den Tresen der verschiedenen Werkstätten unterhielten sich Menschen, prüften die Ware, feilschten um den Preis oder standen einfach nur herum. Johannes erblickte Marie, die ebenfalls in ein Gespräch vertieft war. Er blieb stehen und wartete, bis die Unterhaltung beendet war. Marie hatte ihn schon entdeckt und winkte ihm zu. Auch heute trug sie das rote Kleid und ein schwarzes Tuch, das ihr Haar bedeckte.
«Guten Morgen, junger Mönch», begrüßte sie ihn. «Ihr kommt sehr früh.»
Sie blickte nach hinten in ihre Werkstatt.
«Aber es sieht gut aus.»
Für einen Moment verschwand sie, um kurze Zeit später mit den Schuhen in der Hand zurückzukehren.
«Schaut her, ob er Euch gefällt.»
Sie klappte einen Teil des Tresens zur Seite, trat heraus und hielt ihm einen Schuh entgegen, damit er ihre Arbeit prüfen konnte. Johannes erkannte ihn wieder und bemerkte sogleich, dass die alte, völlig verschlissene Ledersohle durch eine neue ersetzt worden war. Er bog die Sohle ein wenig hin und her und konnte sich davon überzeugen, dass das neue Material kräftig und zugleich sehr biegsam war.
«Was ist das?», fragte er.
«Ein Geheimnis», antwortete Marie und lächelte.
Johannes blickte sie überrascht an.
«Wenn wir die kleinen Geheimnisse unserer Kunst verraten würden», sagte sie, «dann könnte bald jeder in der Stadt solche Schuhe herstellen. Es ist ein besonderes Leder, das wir auf eine Weise behandeln, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.»
«Ihr vermögt kleine Wunder zu vollbringen», sagte Johannes, der sich die Nähte betrachtete und nicht so recht verstehen konnte, warum
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