Das Vermächtnis des Templers
begab er sich auf direktem Wege zur Kapelle. Dort angekommen hörte er, dass die Brüder den Gottesdienst bereits begonnen hatten. So lautlos wie möglich trat er hinzu, suchte seinen Platz auf und stimmte ebenfalls in den Gesang ein.
Auf dem Rückweg zum Ordenshaus nahm ihn der Abt kurz zur Seite und ermahnte ihn, trotz des verständlichen und lobenswerten Eifers die Pflichten nicht zu vernachlässigen. Johannes versprach, künftig aufmerksamer zu sein.
Am Abend übertrug er alle Zahlen in eine neue Zeichnung. Künftig würde er mehrere Blätter aneinander legen müssen, um im gewählten Maßstab die gesamte Kathedrale erfassen zu können. Aber so war gewährleistet, dass der Plan sehr genau sein würde.
In der Nacht zog ein Gewitter über Laon. Es deutete sich von Ferne mit Donner an und entlud sich in großen Regenmengen über der Stadt. Die kleinen Gassen wurden für kurze Zeit zu Sturzbächen.
Gegen Mitternacht war Stille eingekehrt, aber Johannes schlief unruhig. Im Traum fand er sich auf dem großen Platz hinter dem Bischofspalast wieder und war erneut eins mit seinem Bogen und dem Ziel, das der Pfeil in fünfzig Schritt Entfernung treffen würde. Spannen, Zielen und Loslassen waren eine einzige, fließende Bewegung, die von Schütze und Bogen zugleich bewirkt zu werden schienen. Als die Sehne sich gelöst hatte, überzeugte sich Johannes davon, dass der Schuss gelungen war. Er senkte den Bogen, ging zum Baum, in dem der Pfeil steckte, zog ihn heraus und kletterte dann auf die Mauer, die sich unmittelbar dahinter erhob. Die Sonne stand direkt über ihm und so konnte er den steilen Berg hinab und weit hinaus ins Tal blicken. Dort irgendwo im Osten musste seine Heimat sein. Wäre er ein Adler, könnte er sich von der Mauer in die Lüfte erheben und davonfliegen. Er könnte zurückkehren zu den Menschen, die er verlassen hatte und die noch immer in seinem Herzen wohnten. Plötzlich verspürte er etwas hinter sich, das er intuitiv als äußerst bedrohlich empfand. Er wollte sich umwenden, um sich dieser Bedrohung zu stellen, doch etwas wirkte auf ihn ein und machte ihn unfähig, sich zu bewegen. Das Bedrohliche kam näher. Es berührte ihn fast. Dann gelang es Johannes doch, sich von der fremden Macht zu lösen und loszulassen. Er ließ seinen Bogen fallen, stürzte sich von der Mauer hinab und begann zu fliegen. Dann erwachte er.
Am nächsten Morgen nach dem gemeinsamen Mahl der Mönche bat der Abt Johannes zu sich.
«Ich nehme an, du wirst in den nächsten Tagen die Kathedrale vermessen», stellte er fest.
Johannes nickte.
«Da ich deinen Eifer kenne und vermute, dass du von nun an ohnehin von diesem Vorhaben nicht abzubringen sein wirst, habe ich beschlossen, dich für zwei Tage von den Stundengebeten zu befreien, mit Ausnahme der Vesper und der Komplet.»
Johannes blickte überrascht auf.
«Nutze diese zwei Tage intensiv. Es sollte möglich sein, in dieser Zeit alle Messungen durchzuführen und die entsprechenden Maße zu notieren. Ich habe den Bischof über dein Vorhaben in Kenntnis gesetzt. Es wird dich niemand stören. Aber lass den Bogen in der Kammer.»
«Danke», antwortete Johannes kurz. «Ich werde schnell an die Arbeit gehen.»
«Halt!»,
Anselmus zog Johannes, der schon aufgesprungen war, auf die Bank zurück.
«Danach gilt für dich wieder der gewöhnliche Tagesablauf. Die genauen Grundrisszeichnungen kannst du später anfertigen. Ich möchte, dass du die anderen Brüder nicht mit deinem Vorhaben behelligst. Auch deine Zeichnungen darfst du zunächst nicht veröffentlichen. Sie dienen deiner Einweihung.»
Johannes nickte.
«Ich danke Euch», sagte er, küsste den Ring des Abtes und erhob sich. Dann begab er sich ins Scriptorium, um alle notwendigen Dinge zusammenzustellen.
Wenig später stand er erneut in der großen Kathedrale. Er begann seine Messungen in der Vierung und ging von da aus ins südliche Querschiff. Der Wunsch des Abtes, sich das Zeichnen zunächst zu ersparen, erwies sich bald als nicht durchführbar. Johannes musste zumindest grob die Zahl der Säulen und den Verlauf der Kirchenschiffe skizzieren, um später die Fülle der Zahlen überhaupt zuordnen zu können. Schwierig wurde es bei der Bestimmung der Turmgrundrisse, weil dort den Wänden Altäre vorgebaut waren, so dass Johannes sie mit gewisser Distanz abschreiten musste.
Während der Messungen am nördlichen Querschiff bestätigte sich etwas, das Johannes schon mit bloßem Auge bemerkt hatte. Die Baumeister hatten eine
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