Das Vermächtnis des Templers
Spiegelbildlichkeit beider Querschiffe angestrebt. Doch musste man wohl aus verschiedenen praktischen Gründen kleinere Abweichungen zugelassen haben. Dem Gleichmaß des Gebäudes tat dies keinen Abbruch.
Im Chor bemerkte er, dass der Raum offenbar nachträglich um zwei vollständige Vierungen verlängert worden war. Er vermaß alles sorgfältig, konnte sich aber beim besten Willen keinen Reim darauf machen.
Gegen Mittag brach Johannes seine Arbeiten ab. Er beschloss Marie aufzusuchen und seine Schuhe abzuholen. Als er aus der Kathedrale trat, schlug ihm große Hitze entgegen. Er begab sich zunächst zum Markt. Die Sonne brannte unerbittlich.
Zur Mittagszeit schien die Gasse der Schuhmacher wie ausgestorben. Die Fensterläden der Werkstätten standen offen, aber es war still und niemand zu sehen. Johannes wollte schon gehen. Dann läutete er doch die Glocke. Eine Weile geschah nichts. Schließlich hörte er Geräusche in der Werkstatt. Augenblicke später erschien Marie am Tresen.
«Guten Tag, junger Mönch!», begrüßte sie Johannes. «Habt Ihr doch den Weg hierher gefunden.»
Marie blickte ihn erfreut an. Sie war nicht dazu gekommen, ihr Haar in einem Tuch zu verbergen, und so fiel es in langen schwarzen Locken auf ihre Schultern herab. Einige Strähnen hingen ihr über die Augen.
«Ich fürchte, ich komme zur falschen Zeit», sagte Johannes. «Bleibt. Es ist schon gut. Zu dieser Stunde schließen alle Handwerker ihre Läden, weil die Hitze unerträglich wird. Kommt ins Haus. Sonst verbrennt Ihr draußen.»
Marie klappte einen Teil des Tresens hoch und ließ Johannes herein.
Sie durchquerten die Werkstatt, in der zu dieser Stunde niemand arbeitete, und gelangten in einen Raum, den Johannes bislang nicht wahrgenommen hatte. Dort erblickte er einen großen Tisch, zwei Stühle, ein Regal, in dem sich Töpfe und Teller befanden, einen kleineren Tisch, auf dem Gewürze zusammengestellt waren, und an der Wand ein Bett, auf dem eine einfache Decke und ein Kissen lagen.
«Nehmt Platz», sagte Marie und zeigte auf einen der Stühle. Dann griff sie zwei Becher und ein großes Tongefäß aus dem Regal und stellte alles auf den Tisch. Sie setzte sich Johannes gegenüber und füllte die beiden Becher mit kühlem Wasser.
«Trinkt», sagte sie. «Ihr werdet durstig sein.»
Sie nahm ihren Becher in die Hand und beobachtete Johannes, wie er einen großen Schluck nahm und dann aufblickte.
«Danke. Ihr seid sehr freundlich», sagte er. «Ich konnte den gesamten Vormittag nichts trinken.»
«Was habt Ihr heute getan?», wollte Marie wissen.
«Ich habe die Kathedrale vermessen.»
«Was habt Ihr getan?», fragte Marie ungläubig und strich sich mit der Hand die schwarzen Locken aus dem Gesicht.
«Ich vermesse die Kathedrale und lege eine Zeichnung an», antwortete Johannes.
«Warum tut Ihr das?»
«Wenn man die Form der Kathedrale aufzeichnet, kann man vielleicht erkennen, welche Absichten die Bauherren damals verfolgten.»
«Und bekommt Ihr dann auch heraus, warum die Rinder auf den Türmen stehen?»
«Ja, vielleicht auch das», antwortete Johannes.
«Wisst Ihr, dass ich Euch jetzt zum ersten Mal lächeln sehe?», sagte sie, trank einen Schluck Wasser und betrachtete dann aufmerksam seine Hände.
«Ihr seid wirklich ein seltsamer Mönch. Ihr vermesst Kirchen. Ihr schießt mit dem Bogen. Und Ihr tragt Schuhe, mit denen Ihr wohl Monate unterwegs gewesen sein müsst.»
Johannes blickte überrascht auf.
«Woher wisst Ihr, dass ich mit dem Bogen schieße?»
Marie drehte ihren Kopf etwas zur Seite, so dass die Locken ihr Gesicht teilweise verdeckten.
«Seid mir nicht böse. Vor einigen Tagen habe ich Euch nahe der Kathedrale gesehen. Und da bin ich gefolgt und habe Euch beim Schießen beobachtet.»
«Seltsam», sagte Johannes nachdenklich, «ich hätte Euch bemerken müssen.»
«Ich blieb mit etwas Abstand zurück. Und Ihr habt Euch tatsächlich einmal umgedreht, wohl weil Ihr etwas gespürt habt. Doch da hatte ich schon Schutz hinter einem Baum gefunden.»
Sie hielt kurz inne und vergewisserte sich, dass Johannes ihre Neugier nicht übel nahm.
«Ich habe noch nie solch ausgewogene Bewegungen gesehen. Es muss schwer sein, den Bogen zu spannen, aber Ihr tatet alles mit großer Leichtigkeit und ohne jede Hast.»
Für einen Augenblick schwiegen beide.
«Warum seid Ihr mir gefolgt?», fragte Johannes.
«Ihr seid ein seltsamer Mönch», sagte sie leise. Dann nahm sie seine Hand, führte sie zu ihren Lippen und küsste seine Finger.
Gerade
Weitere Kostenlose Bücher