Das Vermächtnis des Templers
rechtzeitig zur Vesper erreichte Johannes die Kapelle der Templer. Doch er nahm die Gesänge und Gebete dieser Stunde kaum wahr. Er stand in der Reihe der Brüder und wusste, dass er nicht bereit war für das, was hier geschah. Auch während des Abendmahls fühlte er sich unter den Mönchen wie ein Fremder. Deshalb war er froh, als er sich ins Scriptorium zurückziehen konnte.
Mit allen Gedanken und allen Sinnen war er bei Marie, konnte den Duft ihrer Haut noch immer deutlich wahrnehmen, noch immer ihre verzaubernde Stimme hören: «Ihr seid ein seltsamer Mönch», hatte sie gesagt. Und etwas später mit einem Lächeln halb fragend hinzugefügt: «Seid Ihr überhaupt ein Mönch?» Er hatte nicht zu antworten gewusst.
Auch jetzt kannte er keine Antwort darauf, und in seiner Hilflosigkeit begann er, die Messungen, die er an diesem Tag durchgeführt hatte, zusammenzustellen und einen Grundriss der östlichen Hälfte der Kathedrale zu zeichnen. Während er das tat, fragte er sich zugleich nach dem Sinn seines Tuns. Es wollten ihm auch dazu keine Antworten einfallen, und er wusste, dass er heute ohnehin keine Antworten finden würde. Aber er konnte auch nicht bei Marie sein, und so tat er, was zu tun war: Er zeichnete. Das tat er auch noch kurz vor Mitternacht, bis die Glocke ihn an die letzte Gebetsstunde erinnerte.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er sich nicht sicher, ob er in der Nacht tatsächlich geschlafen hatte. Es war ein seltsamer Zustand von Unruhe und Müdigkeit gewesen, der ihn jedes Gefühl für Zeit hatte vergessen lassen. Nun blickte er aus dem Fenster und sah, dass es hell geworden war. Er würde Marie erst am Mittag aufsuchen können. So entschloss er sich, noch einmal in die Kathedrale zu gehen, um die letzten Messungen durchzuführen.
Wenig später trat er wieder durch die große Pforte und blickte in den langen, hoch aufstrebenden Raum, der von allen Seiten hell erleuchtet war. Lichtsäulen fielen durch das Rosenfenster des Chores herab, warfen die Farben dieser Welt auf die Steine zu seinen Füßen. Johannes ließ diesen Zauber auf sich wirken und wagte nicht weiterzugehen. Eine ganze Weile blieb er gebannt im Eingang stehen, bis zwei Männer die Kathedrale betraten, an ihm vorbei zum Altar gingen, dort niederknieten und beteten.
Johannes begann mit der Arbeit. Die meisten Messungen für die Westhälfte hatte er schon durchgeführt. Nun begab er sich zunächst in den Eingangsbereich und dann in ein kleines Querschiff, das südwestlich an das Hauptschiff angrenzte. Er konnte nicht recht nachvollziehen, was es damit auf sich hatte. Zwar befand sich hier ein kleiner Altar, doch den hätte man auch an anderer Stelle errichten können. Schon auf der groben Skizze, die er angefertigt hatte, konnte Johannes erkennen, dass die Symmetrie der Kirche an dieser Stelle deutlich gestört war. Wenn die Bauherren vorgehabt hatten, den streng kreuzförmigen Grundriss einzuhalten, dann war dies ein offensichtlicher Verstoß.
In diesem Augenblick kam jemand lautstark durch die Pforte hereingelaufen. Johannes blickte auf und erkannte Alanus.
«Johannes!», rief er. «Du musst kommen! Schnell! Eile ist geboten!»
Alanus war außer Atem. Er blickte auf die Papiere, die Johannes um sich verteilt hatte.
«Sammle das alles ein und komm mit! Wir dürfen keine Zeit verlieren!»
Johannes fragte nicht, was geschehen war, sondern ergriff eilig seine Aufzeichnungen. So schnell sie konnten liefen beide aus der Kathedrale ins Freie, dann weiter durch die Gassen Laons, bis sie das Ordenshaus erreicht hatten. Alanus betrat den Flur und Johannes folgte ihm in den Speisesaal. Dort blieb er überrascht stehen.
Erst erblickte er Anselmus, den Abt, der auf einer der Bänke saß. Dann Jacques, der aufgestanden war, als sein Schüler den Raum betreten hatte.
«Johannes!», rief er, trat auf ihn zu und umarmte ihn herzlich.
«Meister!», brachte Johannes hervor, der nicht fassen konnte, dass Jacques zurückgekehrt war.
«Setzt Euch», sagte Jacques, nachdem sich alle begrüßt hatten.
Johannes nahm neben Alanus Platz.
«Es tut mir leid, dass wir uns nun unter Bedingungen wiedersehen, die ich nicht gewollt habe, aber auch nicht aufzuhalten in der Lage bin», begann Jacques und wandte sich an den Abt. «Die übrigen Brüder dieses Hauses habe ich heute Morgen schon angetroffen. Sie sind bereits im Bilde.»
Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach.
«Wir alle sind in Gefahr. In Paris wurden die Brüder unseres Ordens in
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