Das Vermächtnis des Templers
sich darüber befand. So blickte er noch einmal auf die spitz zulaufenden, reich verzierten Bögen über den drei Portalen. Einige Figurengruppen ließen sich leicht deuten: die Verkündigung der Maria, Jesus im Tempel von Jerusalem. Doch unmittelbar über diesen Darstellungen befanden sich bereits die Wasserspeier, finstere Dämonen, die drohend auf Johannes herabblickten.
«Ihr habt das Zimmer mit dem schönsten Ausblick», stellte der Alte fest. «Wenn Ihr Euch mit dem Essen beeilt, ist es in der Kathedrale noch hell genug für einen Besuch.»
Johannes nickte zustimmend. Sie gingen hinab und betraten einen kleinen Raum, in dem sich nur ein Tisch und Bänke befanden. Zwei Pilger hatten bereits daran Platz genommen, und Johannes setzte sich zu ihnen. Nach dem Gebet brachte der alte Mann Schalen mit einfachem Hirsebrei und eine große Karaffe Wein, der mit Wasser verdünnt war. Die beiden Pilger musterten den neuen Gast aufmerksam, sprachen ihn jedoch nicht an.
Nach dem Essen verließ Johannes die Herberge, ging die wenigen Schritte zum Westportal und betrat die Kathedrale. Durch die großen Fenster aus farbigem Glas fiel nur noch wenig Licht. Johannes erblickte schlanke, hoch aufstrebende Säulen. Das Mittelschiff war von beachtlicher Ausdehnung und die Höhe des Raumes vergleichbar mit der in Laon. Er ging weiter zur Vierung, sah, dass die Querschiffe nicht besonders ausgeprägt waren, der Grundriss der Kirche einer klaren Symmetrie folgte und die Anzahl der Säulen wohl keine symbolische Aussage verbarg. Als er die Kathedrale schon verlassen wollte, bemerkte er an der Westfassade zahlreiche Nischen, in denen Skulpturen aufgestellt worden waren. Dort befand sich auch ein Relief, auf dem ganz offensichtlich ein Tempelritter abgebildet war: Dieser Mann im Kettenhemd kniete vor einem Priester, der ihm Brot und Wein reichte. Johannes betrachtete diese Szene eine Weile. Dann verließ er die Kathedrale, suchte das Zimmer in der Herberge auf und legte sich auf das Stroh. Noch immer waren seine Gedanken bei dem ungewöhnlichen Relief. Die dargestellte Szene erinnerte an das Abendmahl. Doch hatte er selbst noch nie an einer Zeremonie teilgenommen, bei der ein Templer Brot und Wein von einem Priester erhielt, der dem Orden offensichtlich nicht angehörte. Rituale dieser Art wurden einzig von den Vorstehern der jeweiligen Komturei ausgeführt. Das Relief in der Kathedrale stellte die Dinge so dar, als unterständen die Tempelritter der Gnade eines Bischofs. Doch das war nicht der Fall, denn nach allem, was er gelesen hatte, war der Orden von jeglicher kirchlicher Inspektion befreit. Johannes konnte sich keinen Reim auf diese Sache machen.
Schließlich holte ihn die Müdigkeit ein. Jetzt erst spürte er die Strapazen der letzten Tage und fiel in einen tiefen Schlaf.
In der Nacht wurde er von Lärm geweckt. Draußen auf der Straße schrien Menschen durcheinander. Hufschläge auf dem Pflaster waren zu hören und das Geräusch von knarrenden Pferdewagen. Johannes rappelte sich auf, öffnete die Fensterläden und schaute hinab. Der Platz vor der Kathedrale war von Fackelschein schwach erleuchtet, so dass man die Dinge nur schemenhaft erkennen konnte. Viele Menschen waren herbeigelaufen, um zu sehen, was geschah: Bewaffnete Reiter bahnten sich einen Weg. Sie zogen Männer in Ketten hinter sich her, die sich mit aller Kraft sträubten und von Wächtern mit der Peitsche vorangetrieben wurden. Johannes sah, wie man andere auf Pferdewagen davonschaffte. Man hatte diesen Männern Leinensäcke über den Kopf gezogen und die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Als wäre diese Behandlung noch nicht genug, begann die Menschenmenge, wütend zu schreien und auf die Gefangenen zu spucken. Den Reitern fiel es schwer, sich gegenüber der Menge Respekt zu verschaffen, und so kam der Zug nur langsam voran.
Johannes drehte sich um, zog sein Schwert aus der Decke, lief zur Tür und dann die Treppe hinab. Doch bevor er die Pforte des Hauses erreichen konnte, wurde er festgehalten. «Haltet ein», hörte er einen Mann hinter sich rufen. Erschrocken drehte er sich um. Der Alte stand neben ihm
und sah mit ängstlichem Blick auf das Schwert.
«Haltet ein», sagte er noch einmal etwas leiser. «Ihr könnt
nichts tun.»
«Was geschieht da draußen?»
«Männer sind gefangen genommen worden.»
«Welche Männer?»
«Männer des Templerordens. Sie wurden in der Nacht verhaftet. Die Ritter des Königs bringen sie fort.»
Johannes wollte sich erneut
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