Das Vermächtnis des Templers
Rundbögen mündende Pforten eröffneten den Zugang zur Stadt. Die mittlere diente Pferdewagen als Durchfahrt. Die beiden seitlichen, etwas schmaleren waren wohl einzelnen Reitern oder Fußgängern vorbehalten. Am Mauerwerk dazwischen strebten schlanke Säulen mit reich verzierten Kapitellen in die Höhe. Wachen betrachteten Johannes aufmerksam, hinderten ihn aber nicht daran, die Stadt zu betreten.
Eine breite, gepflasterte Straße führte weiter ins Zentrum. Zu beiden Seiten befanden sich die Häuser der Händler. Sie boten Tücher in allen Größen und Färbungen an. Dann folgten Werkstätten, die offenbar vor allem Wollwaren herstellten. Zu dieser späten Stunde war die Straße noch voller Leben. Zumeist waren es Männer, die an den Tresen die Ware begutachteten und mit den Handwerkern verhandelten.
Johannes führte sein Pferd weiter und gelangte zum Markt. Auch hier waren es vor allem Wollweber, die ihre Ware anboten. Zu ihnen gesellten sich Töpfer, Schuhmacher, Sattler und Händler, die Gewürze, Obst, Getreide und Fleisch verkauften. Einige hatten bereits damit begonnen, ihren Stand zu schließen. Zweistöckige Gebäude, meist aus Stein, umgaben den Markt. Johannes suchte hier vergeblich nach einer Herberge, und deshalb ging er weiter in Richtung der Kathedrale, deren Türme über die Giebel eines besonders prächtigen Patrizierhauses hinweg sichtbar waren. So fand er einen weiteren Markt, der ausschließlich den Tuchmachern vorbehalten schien. Von dort aus hatte er freien Blick auf die Chorseite der Kathedrale. Johannes erkannte sofort, dass diese Kirche der in Laon und Jumièges an Größe in nichts nachstand. Er überquerte den Platz und ging an der Nordfassade entlang. Hier befanden sich drei Portale im alten Baustil. Sie waren aufwendig verziert und zeigten in den auslaufenden Rundbögen Figurengruppen aus Stein. Johannes erkannte eine Darstellung des Jüngsten Gerichts. Doch es war jetzt keine Zeit, auf diese Dinge zu achten. So führte er sein Pferd weiter und entdeckte schließlich unmittelbar gegenüber des Westportals der Kathedrale ein Gebäude, das den Ordenshäusern ähnlich war, die er in Laon kennengelernt hatte. Auf einer Bank neben dem Eingang saß ein alter Mann, der den jungen Mönch und sein Pferd aufmerksam musterte. Johannes ging auf ihn zu.
«Guten Abend», begrüßte ihn der Alte.
«Gott zum Gruß», antwortete Johannes und ließ sein Pferd anhalten.
«Ich bin auf der Reise und suche ein Quartier. Könnt Ihr mir helfen?»
«Seid Ihr ein Pilger?», fragte der Alte.
«Was meint Ihr?»
«Ein Pilger des heiligen Jacobus?»
Johannes schüttelte den Kopf.
«Nein. Ich bin ein Mönch.»
Der alte Mann blickte verwundert.
«Ein Mönch zu Pferd? Das haben wir hier in Reims selten. Es gibt nur wenige Orden, deren Männer mit dem Pferd unterwegs sind.»
«Ich habe eine lange Reise vor mir», sagte Johannes bedächtig. «Mein Abt gab mir ein Pferd.»
«Ihr sprecht unsere Sprache auf seltsame Weise. Ihr seid nicht von hier. Doch der heilige Benedikt hat uns gelehrt, gottesfürchtige Menschen aufzunehmen, so wie Christus es getan hat. Ihr sollt willkommen sein. Auch wenn Ihr nicht die silberne Muschel tragt.»
«Die silberne Muschel?»
«Wahrlich, Ihr seid wirklich nicht von hier. Aber kommt. Es sind nur wenige Pilger im Haus. So will ich Euch aufnehmen. Aber da Ihr nicht auf dem Pilgerweg seid und auch kein Bettelmönch, solltet Ihr uns für Eure Bleibe und Euer Essen etwas geben.»
«So soll es sein.»
«Dann folgt mir.»
Johannes nahm die Zügel des Pferdes und folgte dem Alten durch eine schmale Gasse in einen Hinterhof. Hier befand sich ein kleiner Stall, der drei Pferden Platz bot. Während Johannes das Gepäck vom Sattel nahm, musterte ihn der Mann aufmerksam. Zwar waren Pfeile und Schwert in der Decke eingerollt, doch der Bogen ließ sich nicht verbergen. Aber der Alte schien nichts zu bemerken, brachte frisches Stroh und dann Wasser. Erst als das Pferd versorgt war, gingen sie die Gasse zurück und betraten die Herberge.
Das Zimmer im ersten Stock war sehr schlicht: an einer Seite Stroh, darauf ein einfaches Laken, gegenüber ein Tisch, auf dem man das Gepäck ablegen konnte. Johannes öffnete die Fensterläden und erblickte die Westfassade der Kathedrale. Rechts und links erhoben sich schlanke Türme in die Höhe. Über den drei Portalen, so groß und kunstvoll wie die in Laon, erblickte Johannes ein Rosenfenster, das im Durchmesser wohl vierzig Fuß maß. Er konnte nicht erkennen, was
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