Das Vermächtnis des Templers
Rosshaarbogens gestrichen wurden. Ein König mit Namen Alfonso, genannt El Sabio, hatte sogar damit begonnen, die Pilgerlieder von seinen Gelehrten mit wundersamen Zeichen aufschreiben zu lassen. Man nannte diese Sammlung das Libre Vermell, das rote Buch. Enrico hatte es nie zu Gesicht bekommen, aber vielleicht benötigte man es auch gar nicht, denn die Pilger verbreiteten diese Lieder untereinander.
Dann begann Enrico zu singen. Er hatte eine warme, klare Stimme. Johannes konnte die Lieder verstehen, denn ihre Sprache war dem Lateinischen ähnlich. Mal war es ein Lob auf Maria, mal eine Warnung vor dem Tod, dann ein Liebeslied. Die Melodien hörten sich ganz eigenartig an, hatten wenig gemeinsam mit den Gesängen der Mönche, aber sie waren schön und gingen zu Herzen.
Enrico berichtete auch von Bildern, die er in der Kirche des heiligen Jacobus gesehen hatte. Er fand sie etwas altmodisch. Waren ihm doch aus Italien Gemälde bekannt, auf denen die Menschen so dargestellt wurden, wie sie wirklich aussahen, und auch Räume und Plätze besaßen darauf mehr Tiefe. Anno konnte diese Einschätzung nicht verstehen. Es komme nicht darauf an, den heiligen Jacobus so zu malen, wie er wirklich ausgesehen hatte. Es sei wichtiger, darzustellen, was er den Pilgern bedeute. Über diese Frage gerieten die beiden in einen längeren Streit, einigten sich aber schließlich darauf, dass die Menschen in Italien wohl anders fühlten als die Menschen am Ende der Welt.
Auch Wundergeschichten bekam Johannes zu hören. In Santo Domingo de la Calsada sei ein Pilger zu Unrecht erhängt worden und ein Jahr später lebendig vom Galgen gefallen. In dem kleinen Ort Arco habe eine gelähmte Frau die Kreuzesreliquien aufgesucht und die kleine Kapelle geheilt verlassen. Gegen Mittag erzählte Anno noch immer eine Wundergeschichte nach der anderen, bis Johannes ihn unterbrach.
«Glaubst du denn, dass all diese Geschichten wahr sind?» Anno blickte erstaunt auf.
«Gerade von einem Mönch hätte ich diese Frage nicht erwartet», antwortete er. «Warum sollen diese Erzählungen nicht wahr sein? Dann müsste man auch an vielem zweifeln, was uns die Heilige Schrift berichtet. Denk an die Zerstörung der Mauern von Jericho beim Klang der Posaunen. Oder daran, dass sich vor Moses das Meer teilte und dem Volk Israel einen Fluchtweg aus Ägypten freigab. Da gingen sie mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen Mauer zur Rechten und zur Linken. Oder denk an Jesus Christus, unseren Herrn, der Blinde wieder sehen und Lahme gehen lassen konnte. Was zweifelst du da? Vielleicht wirst auch du an eine Mauer kommen, die zu einem Wunder wird. Vielleicht wirst auch du plötzlich etwas sehen, für das du zuvor kein Auge gehabt hast. Vielleicht wirst auch du einmal erleben, dass es dir plötzlich möglich ist, aufzustehen und davonzugehen.»
Johannes blickte zu Anno und konnte nur mit Mühe die Unruhe verbergen, die diese Worte in ihm bewirkt hatten. Ja, er hatte sich mit Mauern beschäftigt. Er hatte versucht, die Wahrheit zu sehen. Nur war ihm bislang noch kein Wunder widerfahren.
«Vielleicht hast du recht», sagte er kurz, überlegte einen Moment und war dann froh, als sie auf dem Feld ein seltsames Gebäude erblickten, dass ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Es hatte keine Fenster, war etwa 30 Fuß hoch und besaß hölzerne Flügel, die sich im Wind drehten. Anno erklärte, dass in diesem Haus Korn gemahlen werde, etwa so wie in den Wassermühlen am Fluss. Als Johannes auf das seltsame Haus zugehen wollte, um es näher zu betrachten, hielt er ihn zurück und sagte, dass sie sich beeilen müssten, wenn sie Trier zum Abend erreichen wollten.
Am Nachmittag kamen sie an einen Fluss und folgten seinem Lauf. Anno wusste, dass sie die Mosel erreicht hatten und Trier nicht mehr fern war. Als die Sonne bereits tiefer stand, sahen sie vor sich die Stadtmauer. Enrico begann ein Lied zu singen, das er von den Pilgern gelernt hatte: Sei gegrüßt, du königliche Stadt, Trier, Stadt der Städte, durch die Frohsinn und Freude zurückkehrt! Stadt voller Anmut, die du Bacchus ehrst und Bacchus überaus teuer bist, schenke deinen Einwohnern die stärksten Weine in der Güte! Vor Jupiters Thron und in Gegenwart der Götter fällt Venus ihr Urteil, dass man die Rose dem Rosengärtner geben solle wegen seines liebenswürdigen Wesens. Was ist erfreulicher als ein vollkommen schönes Gesicht? Der Rosengärtner bringt heute die Rose zu Ehren. Deshalb klingt die
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