Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
goldenen Himmel sehen.
    Elfenbein blickte mit einer Art sehnsüchtigem Hass auf diesen Hügel.
    »Das ist der Rokkogel, Junge«, sagte der Wettermacher zu Schwebender Drache, die neben ihm an der Reling stand. »Wir kommen jetzt in die Thwil-Bucht. Hier gibt es keinen Wind außer dem, den sie wollen.«
    Bis sie ins Innere der Bucht gelangt und vor Anker gegangen waren, war es dunkel und Elfenbein sagte zum Schiffsmeister: »Ich gehe morgen früh an Land.«
    Unten in ihrer winzigen Kabine saß Schwebender Drache und wartete auf ihn, feierlich wie immer, aber ihre Augen funkelten vor Erregung. »Wir gehen morgen früh an Land«, wieder holte er und sie nickte zustim mend. Sie fragte: »Ist das so in Ordnung, wie ich aussehe?«
    Er setzte sich auf sein schmales Bett und blickte sie an, die auf ihrem schmalen Bett saß; sie konnten sich nicht direkt gegenüber sitzen, weil da kein Platz für die Knie war. In O-Hafen hatte sie sich auf seinen Rat hin ein ordentliches Hemd und eine Hose gekauft, womit sie eher wie ein möglicher Anwärter für die Schule aussah. Ihr Gesicht war sauber und vom Wind gegerbt. Ihr Haar war geflochten und der Zopf hoch gesteckt, wie Elfenbein es auch trug. Die Hände hatte sie sich ebenfalls sauber gewaschen, und sie ruhten flach auf den Schenkeln, lange, kräftige Hände, wie die eines Mannes.
    »Du siehst nicht aus wie ein Mann«, sagte er. Ihr Gesicht wurde lang. »Nicht für mich. Für mich wirst du nie wie ein Mann aussehen. Aber mach dir keine Sorgen. Für sie wirst du so aussehen.«
    Sie nickte bekümmert.
    »Die erste Prüfung ist sogleich die große Prüfung, Schwebender Drache«, erklärte er. Jede Nacht, die er allein in seiner Kabine zugebracht hatte, hatte er sich dieses Gespräch überlegt. »Ins Großhaus hineinzugehen, durch diese Tür zu gehen.«
    »Ich habe darüber nachgedacht«, warf sie hastig, doch ernst ein. »Könnte ich ihnen nicht einfach sagen, wer ich bin? Du wärst da und würdest für mich bürgen... würdest ihnen sagen, dass ich, auch wenn ich eine Frau bin, eine Begabung habe, und dass ich verspreche, das Keuschheitsgelübde abzulegen und abgeschieden zu leben, wenn sie das von mir verlangen...«
    Während sie redete, schüttelte er die ganze Zeit über den Kopf. »Nein, nein, nein, nein. Hoffnungslos. Sinnlos. Fatal!«
    »Auch wenn du...«
    »Auch wenn ich für dich sprechen würde. Sie würden nicht zuhören. Die Regel von Rok verbietet Frauen jeglichen Unterricht in den Höheren Künsten, nicht ein Wort der Sprache des Erschaffens dürfen sie erfahren. Das ist immer schon so gewesen. Sie würden nicht zuhören. Deshalb muss man es ihnen zeigen! Und wir werden es ihnen zeigen, du und ich. Wir werden es sie lehren. Du musst Mut haben, Schwebender Drache. Du darfst nicht schwach werden und denken: >Oh, wenn ich sie nur schön bitte, mich einzulassen, so können sie es mir nicht verwehren. < Sie können es und sie werden es. Und wenn du dich zu erkennen gibst, werden sie dich bestrafen. Und mich dazu.« Er legte einigen Nachdruck auf die letzten Worte und bei sich murmelte er: »Bewahre.«
    Sie blickte ihn mit ihren unergründlichen Augen an und fragte schließlich: »Was muss ich tun?«
    »Hast du Vertrauen zu mir, Schwebender Drache?«
    »Ja.«
    »Wirst du mir ga n z und vollständig vertrauen, in dem Wissen, dass das Wagnis, das ich in dieser Sache für dich auf mich nehme, größer ist als deines?«
    »Ja.«
    »Dann musst du mir das Wort nennen, das du dem Pförtner sagen wirst.«
    Sie starrte ihn an. »Aber ich dachte, du würdest mir das Wort sagen.«
    »Das Wort, nach dem er dich fragen wird, ist dein wahrer Name.«
    Er ließ dies eine Weile wirken und fuhr dann sehr sanft fort: »Und um den Erscheinungszauber über dich zu wirken und um ihn so tief und vollständig zu weben, dass die Meister von Rok nichts anderes in dir sehen als einen Mann, muss ich auch deinen Namen wissen.« Wieder hielt er inne. Beim Sprechen schien ihm alles, was er sagte, wahr zu sein, und seine Stimme war freundlich und bewegt, als er fortfuhr: »Ich hätte ihn schon längst in Erfahrung bringen können. Aber ich habe beschlossen, solcherlei Künste nicht bei dir anzuwenden. Ich wollte, dass du genug Vertrauen zu mir hast, um mir deinen Namen selbst zu nennen.«
    Sie sah auf ihre Hände hinunter, die jetzt auf den Knien gefaltet waren. Im schwachen rötlichen Licht der Kabinenbeleuchtung warfen ihre Wimpern feine, lange Schatten auf die Wangen. Sie blickte auf, ihm direkt in die

Weitere Kostenlose Bücher