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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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auch als sie nebeneinander saßen und die Beine über die Ladeklappe baumeln ließen, während sechs Fässer mit Wein zwischen ihnen und dem dösenden Kutscher hin und her rollten und die in der Sommerhitze dösenden Hügel und Felder sehr, sehr langsam vorüberzogen. Elfenbein versuchte sie zu verspotten, aber sie schüttelte nur den Kopf. Vielleicht hatte sie Angst bekommen vor dem Abenteuer, jetzt, wo sie dabei war, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Es ergab sich kein Gespräch. Sie schwieg, auf feierliche, lastende Weise. Die Frau könnte mich sehr langweilen, dachte Elfenbein, wenn ich sie erst einmal unter mir gehabt habe. Dieser Gedanke reizte ihn auf fast unerträgliche Weise, aber wenn er sie ansah, erstarben seine Gefühle angesichts ihrer massiven Gegenwart.
    Es gab keine Gasthöfe an dieser Straße, die einst ganz auf dem Anwesen von Iria verlaufen war. Als die Sonne sich im Westen hinab zur Ebene neigte, machten sie bei einem Bauernhaus Halt, das einen Stall für die Pferde, einen Schuppen für den Wagen und Stroh im Vorraum des Stalls anbot. Der Vorraum war dunkel und stickig und das Stroh roch muffig. Elfenbein verspürte überhaupt keine Lust, obwohl Schwebender Drache nur wenige Ellen von ihm entfernt lag. Den ganzen Tag über hatte sie so sorgfältig den Mann gespielt, dass sie sogar ihn halbwegs überzeugt hatte. Vielleicht legt sie den alten Mann ja wirklich herein, dachte er, grinste bei dem Gedanken und schlief ein.
    Den nächsten Tag rumpelten sie durch ein Sommergewitter oder zwei und erreichten in der Dämmerung Kembermünde, eine befestigte, blühende Hafenstadt. Sie ließen den Fuhrmann den Geschäften seines Herrn nachgehen und machten sich auf die Suche nach einem Gasthof bei den Kais. Schwebender Drache besichtigte die Stadt in einem Schweigen, das Ehrfurcht, Missbilligung oder schlichte Blödheit sein konnte. »Das ist eine hübsche kleine Stadt«, belehrte Elfenbein sie, »aber die einzig wahre Stadt auf der Welt ist Havnor.« Es war sinnlos, sie beeindrucken zu wollen. Alles, was sie darauf sagte, war: »Es fahren nicht viele Schiffe nach Rok, oder? Ob es lange dauern wird, bis wir eins finden, das uns hinbringt, was meinst du?«
    »Nicht, wenn ich den Stab trage«, erwiderte er.
    Sie hörte auf, sich umzuschauen, und ging eine Weile in Gedanken versunken dahin. Sie war schön, wenn sie sich bewegte, kühn und anmutig, den Kopf hoch erhoben.
    »Du meinst, einem Magier gegenüber fühlen sie sich verpflichtet? Aber du bist doch noch kein Magier.«
    »Das ist bloß eine Formalität. Wir fortgeschrittenen Semester können einen Stab tragen, wenn wir in Angelegenheiten Roks unterwegs sind. Was ich ja bin.«
    »Weil du mich hinbringst?«
    »Weil ich ihnen einen Schüler bringe, ja. Einen Schüler mit großer Begabung!«
    Sie stellte keine weiteren Fragen. Sie diskutierte nie - das war eine ihrer Tugenden.
    An diesem Abend beim Essen in dem Hafenlokal fragte sie mit ungewohnter Schüchternheit: »Habe ich denn eine große Begabung?«
    »Meiner Meinung nach, ja«, antwortete er.
    Sie dachte eine Weile nach - die Unterhaltung mit ihr konnte eine langwierige Angelegenheit sein - und sagte schließlich: »Rose hat immer gesagt, ich hätte große Macht, aber sie wisse nicht, welcher Art. Und ich... ich weiß, dass ich eine Begabung habe, aber ich weiß nicht, welche es ist.«
    »Du gehst nach Rok, um das herauszufinden«, erwiderte er und hob das Glas. Nach einem Augenblick erhob sie ihres und lächelte ihm zu, mit einem so strahlenden und zärtlichen Lächeln, dass er spontan sagte: »Auf dass du finden mögest, wonach du suchst!«
    »Wenn ich es finde, dann verdanke ich es dir«, meinte sie. In diesem Augenblick liebte er sie um ihres aufrichtigen Herzens willen, und er hätte jedem Gedanken an sie abgeschworen, der sie anders darstellte denn als Gefährtin in einem kühnen, ritterlichen Abenteuer.
    In dem überfüllten Gasthof mussten sie einen Raum mit zwei weiteren Gästen teilen, aber Elfenbeins Gedanken waren vollkommen keusch, obwohl er sich deswegen ein wenig belächelte.
    Am nächsten Morgen brach er im Küchengarten des Gasthofs einen Zweig von einem Kraut und verzauberte ihn, sodass er aussah wie ein feiner Stab, mit Kupfer beschlagen und genauso hoch wie er selbst. »Was ist das für ein Holz?«, fragte Schwebender Drache fasziniert, als sie ihn sah, und als er lachend antwortete: »Rosmarin«, lachte sie auch. Sie gingen über die Kais und hörten sich um nach einem Schiff, das

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