Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
Augen. »Mein Name ist Irian«, sagte sie.
    Er lächelte. Sie nicht.
    Er sagte nichts. In der Tat wusste er nicht weiter. Wenn er geahnt hätte, dass es so einfach war, hätte er ihren Namen mitsamt der Macht, sie vollständig seinem Willen zu unterwerfen, schon vor Tagen, vor Wochen wissen können, durch die bloße Vorspiegelung dieses verrückten Plans - ohne seine Anstellung aufzugeben und sein Ansehen womöglich in Frage zu stellen, ohne eine Seereise, ohne deswegen den ganzen Weg nach Rok zurückzulegen! Denn er erkannte nun, dass der ganze Plan eine Torheit war. Es bestand überhaupt keine Möglichkeit, eine Verkleidung für sie zu finden, die den Türhüter auch nur einen Augenblick lang zu täuschen vermochte. All seine Vorstellungen, die Meister zu demütigen, wie sie ihn gedemütigt hatten, waren Unfug. Besessen davon, sich einen Spaß mit dem Mädchen zu machen, war er in die Falle getappt, die er für sie aufgestellt hatte. Voller Bitternis musste er sich eingestehen, dass er immer noch an seine eigenen Lügen glaubte, in Netze ging, die er selbst so sorgfältig gewoben hatte. Nachdem er sich in Rok zum Narrenen gemacht hatte, war er wiedergekommen, um noch einmal das Gleiche zu tun. Verzweifelter Ärger kochte in ihm hoch. Es gab nichts Gutes, nirgends.
    »Was ist los?«, fragte sie. Die Freundlichkeit ihrer tiefen, belegten Stimme entwaffnete ihn, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen, kämpfte voller Scham gegen die Tränen an.
    Sie legte eine Hand auf sein Knie. Es war das erste Mal überhaupt, dass sie ihn berührte. Er ertrug es, die Wärme und das Gewicht dieser Berührung, nach der er sich so lange so heftig und doch vergeblich verzehrt hatte.
    Er wollte sie verletzen, sie aufschrecken aus ihrer ahnungslosen Freundlichkeit, aber als er dann endlich zu sprechen vermochte, sagte er schlicht: »Ich wollte nur mit dir schlafen.«
    »Wirklich?«
    »Hast du geglaubt, ich wäre einer von ihren Eunuchen? Ich würde mich selbst durch Zauberbann kastrieren, damit ich ein Heiliger werde? Was meinst du wohl, warum ich keinen Stab habe? Was meinst du wohl, warum ich nicht in der Schule bin? Hast du alles geglaubt, was ich erzählt habe?«
    »Ja«, sagte sie. »Es tut mir Leid.« Ihre Hand lag noch immer auf seinem Knie. Sie meinte: »Wir können miteinander schlafen, wenn du willst.«
    Er richtete sich auf und saß reglos da.
    »Was bist du?«, fragte er schließlich.
    »Ich weiß es nicht. Deswegen wollte ich ja nach Rok kommen. Um das herauszufinden.«
    Er machte sich los, erhob sich und stand gebeugt da.
    Keiner von beiden konnte in der niedrigen Kabine aufrecht stehen. Händeringend stand er so weit von ihr entfernt, wie es nur möglich war, und kehrte ihr den Rücken zu.
    »Du wirst es nicht herausfinden. Hier gibt es nichts denn Lügen und Heuchelei. Alte Männer, die mit Worten ihre Spiele treiben. Ich wollte ihre Spiele nicht spielen, also bin ich gegangen. Weißt du, was ich getan habe?« Er drehte sich um und bleckte die Zähne in einem krampfhaft triumphalen Lächeln. »Ich holte ein Mädchen, ein Mädchen aus der Stadt in mein Zimmer. In meine kleine zölibatäre Zelle. Ein Fenster ging nach hinten hinaus auf eine Seitenstraße. Keine Zauberei - bei all der Magie, die da herumschwirrt, kann man keinen Zauber wirken. Aber sie wollte kommen und kam auch, und ich ließ eine Strickleiter aus dem Fenster hinunter und sie kletterte herauf. Wir waren gerade zugange, als der alte Mann hereinkam! Denen habe ich es gezeigt! Und wenn ich dich hätte hineinbringen können, hätte ich es ihnen wieder gezeigt. Ich hätte ihnen ihre Lektion erteilt.«
    »Nun, ich will es versuchen«, sagte sie.
    Er starrte sie an.
    »Nicht aus demselben Grund wie du«, erklärte sie, »aber ich will noch immer hinein. Wir haben den ganzen Weg hierher zurückgelegt. Und du kennst meinen Namen.«
    Das war wahr. Er kannte ihren Namen: Irian. Er war wie ein Stück glühende Kohle, ein Stück sengender Glut in seinem Geist. Seine Gedanken konnten ihn nicht fassen. Sein Wissen konnte keinen Gebrauch von ihm machen. Seine Zunge konnte ihn nicht aussprechen.
    Sie sah zu ihm auf, ihr scharf geschnittenes, kräftiges Gesicht erschien weicher im dämmrigen Laternenlicht. »Wenn du mich nur hierher gebracht hast, um mit mir zu schlafen, Elfenbein, so können wir das tun. Wenn du es immer noch willst.«
    Zuerst war er sprachlos, dann schüttelte er den Kopf. Nach einer Weile war er imstande zu lachen. »Ich denke, wir sind weit... wir

Weitere Kostenlose Bücher