Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
kleinen Haus, die Luft kam ihr erstickend vor, und die Decke schien sie zu erdrücken; dann verfiel sie plötzlich in einen tiefen Schlaf. Ebenso plötzlich erwachte sie, als es im Osten eben hell zu werden begann. Sie ging zur Tür, um zu sehen, was sie am liebsten sah: den Himmel kurz vor Sonnenaufgang. Als sie hinausschaute, sah sie Azver, den Formgeber, der in seinen grauen Umhang gewickelt auf dem Boden vor ihrer Tür lag und fest schlief. Lautlos zog sie sich ins Haus zurück. Etwas später sah sie ihn zum Hain zurückgehen, etwas steif und sich den Kopf kratzend, taumelte er dahin, als sei er noch nicht ganz wach.
    Sie machte sich an die Arbeit, schleifte die Innenwände des Hauses ab und besserte sie mit Gips aus. Doch noch ehe das Sonnenlicht durch die Fenster fiel, klopfte es an der Tür. Es war der Mann, den sie für einen Gärtner gehalten hatte, der Meister der Kräuterkunde; breit und stur wie ein Ochs stand er neben dem hageren, finster dreinblickenden alten Namengeber.
    Sie ging zur Tür und murmelte etwas zur Begrüßung. Sie entmutigten sie, diese Meister von Rok, und zudem bedeutete ihre Anwesenheit, dass die friedliche Zeit vorüber war, die Tage der Spaziergänge mit dem Formgeber durch den stillen Sommerwald. Es war in der letzten Nacht zu Ende gegangen. Sie wusste es, aber sie wollte es nicht wahrhaben.
    »Der Formgeber hat uns gerufen«, sagte der Meister der Kräuterkunde. Es war ihm irgendwie peinlich. Beim Anblick eines Büschels Unkraut unter dem Fenster sagte er: »Das ist Honiggras. Jemand aus Havnor hat es wohl hier angepflanzt. Ich wusste gar nicht, dass überhaupt welches auf der Insel wächst.« Er untersuchte es aufmerksam und steckte ein paar Samenhülsen in seinen Beutel.
    Insgeheim, aber nicht weniger aufmerksam studierte Irian den Namengeber, versuchte herauszufinden, ob er ein so genannter Geistbote war oder ob er in Fleisch und Blut anwesend war. Er wirkte durchaus stofflich, aber sie glaubte zu spüren, dass er nicht da war, und als er ins schräg einfallende Sonnenlicht trat und keinen Schatten warf, wusste sie es.
    »Ist es weit von dort, wo Ihr lebt?«, fragte sie.
    Er nickte. »Habe mich selbst auf halber Strecke zurückgelassen.« Er schaute auf; der Formgeber kam auf sie zu, nun vollkommen munter.
    Er begrüßte sie und fragte: »Kommt der Türhüter auch?«
    »Er meinte, er kümmere sich besser um seine Türen«, sagte der Kräuterkundige. Er schloss seinen Beutel mit den vielen Taschen und sah die anderen der Reihe nach an. »Aber ich weiß nicht, ob er den Hügel im Auge behalten kann.«
    »Was ist los?«, fragte Kurremkarmerruk. »Ich habe etwas von Drachen gelesen. Nichts darauf gegeben. Aber alle Jungen, die bei mir im Turm studierten, sind weg.«
    »Beschworen«, sagte der Kräuterkundige trocken.
    »So?«, meinte der Namengeber noch trockener.
    »Ich kann Euch nur sagen, wie es mir vorkommt«, erwiderte der Kräuterkundige unwillig, verlegen.
    »Tut das«, forderte der alte Magier ihn auf.
    Der Kräuterkundige zögerte noch immer. »Die Frau gehört nicht zu unserer Ratsversammlung«, sagte er schließlich.
    »Sie gehört zu mir«, entgegnete Azver.
    »Sie ist in dieser Zeit an diesen Ort gekommen«, erklärte der Namengeber. »Und niemand kommt zufällig an diesen Ort in dieser Zeit. Was wir wissen, ist bloßer Schein. Es gibt Namen hinter den Namen, werter Heilkundiger.«
    Der dunkeläugige Magier senkte den Kopf. »Sehr wohl.« Offenbar war er erleichtert und bereit, ihr Urteil über sein eigenes zu stellen. »Thorion war viel bei den alten Meistern und auch bei den jungen Männern. Geheime Zusammenkünfte, Zirkel, Gerüchte, Andeutungen hinter vorgehaltener Hand. Die jüngeren Studenten haben Angst, und einige haben mich oder den Pförtner gefragt, ob sie gehen können. Und wir haben sie gehen lassen. Aber es ist kein Schiff im Hafen, und es hat auch keines in der Thwil-Bucht angelegt seit dem, mit dem Ihr, junge Frau, kamt und das am nächsten Tag nach Wathort weitersegelte. Der Windschlüssel schickt den Rok-Wind gegen alles los. Selbst wenn der König persönlich kommen sollte, er könnte vor Rok nicht ankern.«
    »Bis der Wind dreht, hm?«, sagte der Formgeber.
    »Thorion sagt, Lebannen sei nicht wirklich der König, da ihn kein Erzmagier gekrönt hat.«
    »Unsinn! Historisch nicht verbürgt!«, rief der alte Namengeber aus. »Der erste Erzmagier kam Jahrhunderte nach dem letzten König. Regierte Rok an des Königs statt.«
    »Ah«, meinte der Formgeber.

Weitere Kostenlose Bücher