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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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ihm selbst etwas lernen.« Eines Nachmittags kam sie an den Strand der Thwil-Bucht herunter, wo er gerade ein Fischerboot reparierte. Sie half ihm, so gut sie konnte, und fragte ihn nach dem Schiffsbau, und er erzählte und zeigte ihr, was er konnte. Es war ein friedlicher Nachmittag, aber danach ging sie in ihrer brüsken Art davon. Er empfand Scheu vor ihr; sie war imberechenbar. Daher war er verwundert, als sie wenig später zu ihm sagte: »Nach dem Langtanz gehe ich in den Hain. Komm mit, wenn du magst.«
    Obwohl man vom Rokkogel aus scheinbar den gesamten Hain überblicken konnte, kam man doch, wenn man ihn einmal betreten hatte, nicht immer bei den Feldern wieder hinaus. Man ging unter Bäumen dahin, unter Eichen, Buchen, Eschen, Kastanien, Nussbäumen und Weiden, lauter vertrauten Bäumen, grün im Sommer und kahl im Winter; dann gab es da Tannen und einen hohen immergrünen Baum, den Medra nicht kannte, mit weicher, rötlicher Rinde und fächerförmig angeordnetem Laub; man ging weiter, und nie wiederholte sich etwas auf diesem Weg zwischen den Bäumen hindurch. Leute in Thwil erzählten ihm, dass man besser nicht zu weit hineinging, denn nur wenn man denselben Weg zurückging, konnte man sicher sein, wieder bei den Feldern hinauszukommen.
    »Wie weit reicht der Wald?«, fragte Medra und Amber antwortete: »So weit wie der Geist.«
    Die Blätter an den Bäumen redeten, erklärte sie, und die Schatten konnte man lesen. »Ich lerne gerade, sie zu lesen«, sagte sie.
    Auf Orrimy hatte Medra die im Archipel gebräuchliche Schrift gelernt. Später hatte ihm Erpel auf Pendor einige der magischen Runen beigebracht. Das war allgemein bekannte Überlieferung. Was Amber allein im Immanenten Hain gelernt hatte, wusste niemand außer jenen, mit denen sie ihr Wissen teilte. Den ganzen Sommer über lebte sie im Schutz des Hains, kein anderes Dach über sich als die Äste der Bäume, dazu eine Feuerstelle an dem Bach, der im Wald entsprang und in den kleinen Fluss mündete, welcher zur Bucht hinunterfloss.
    Medra schlug sein Lager in der Nähe auf. Er wusste nicht, was Amber von ihm wollte, aber wahrscheinlich wollte sie ihn etwas lehren, wollte seine Fragen nach dem Hain beantworten. Doch sie sprach nicht, und er war scheu und zurückhaltend, fürchtete, ihre Einsamkeit zu stören, die ihn ebenso sehr einschüchterte wie die Seltsamkeit der Hains an sich. Am zweiten Tag forderte sie ihn auf, mit ihr zu kommen, und sie führte ihn sehr tief in den Wald hinein. Stundenlang gingen sie schweigend dahin. Sommerliche Mittagsstille herrschte unter den Bäumen. Kein Vogel sang. Die Blätter regten sich nicht. Die Reihenfolge der Bäume war unendlich verschieden und doch immer dieselbe. Er wusste nicht, wann sie kehrtmachten, aber er wusste, dass sie über die Küste von Rok hinausgegangen waren.
    Sie kamen wieder bei Feldern und Weiden heraus, die sich im warmen Abendlicht vor ihnen ausbreiteten. Als sie zu den Lagerstellen zurückkehrten, sah er über den Hügeln im Westen die vier Sterne der Schmiede aufsteigen.
    Amber sagte zum Abschied nur: »Gute Nacht.«
    Am nächsten Tag sagte sie: »Ich gehe und setze mich unter die Bäume.« Unschlüssig, was von ihm erwartet wurde, folgte er ihr in einem gewissen Abstand, und als sie sich hinsetzte, setzte er sich auch, und als sie sich umwandte, lauschte und still war, schaute er sich auch um, lauschte und war still. So hielten sie es mehrere Tage lang. Dann eines Morgens rebellierte er und blieb beim Fluss stehen, während Amber in den Hain ging. Sie schaute sich nicht um.
    An diesem Morgen kam Veil von Thwil herauf und brachte einen Korb mit Brot, Käse, Quark und Sommerfrüchten. »Was hast du gelernt?«, fragte sie Medra in ihrer kühlen, freundlichen Art, und er antwortete: »Dass ich ein Narr bin.«
    »Warum das, Seeschwalbe?«
    »Nur ein Narr sitzt ewig unter Bäumen und wird nicht klüger.«
    Die große, schlanke Frau lächelte ein wenig. »Meine Schwester hat noch nie einen Mann unterrichtet«, sagte sie. Sie schaute ihn an und blickte dann über die sommerlichen Felder. »Sie hat noch nie einen Mann angesehen«, sagte sie.
    Medra stand still. Er fühlte, wie sein Gesicht glühte. Er sah zu Boden. »Ich dachte...«, begann er und verstummte.
    Veils Worte enthüllten ihm mit einem Schlag die Kehrseite von Ambers Ungeduld, ihrer Wildheit und ihrem Schweigen.
    Er hatte sich bemüht, Amber als unberührbar zu betrachten, während er sich danach sehnte, ihre weiche braune Haut und

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