Das Vermächtnis von Erdsee
schlecht weitergegeben und von den Mächtigen für üble Zwecke missbraucht wird, wie soll unsere Kraft dann jemals größer werden? Wovon soll der junge Drache sich ernähren?«
»Dies ist der Mittelpunkt«, erklärte Veil. »Wir müssen im Mittelpunkt bleiben. Und warten.«
»Wir müssen geben, was wir zu geben haben«, sagte Medra. »Wenn alle außer uns Sklaven sind, was ist unsere Freiheit dann wert?«
»Wahres Können ist dem falschen überlegen. Die Formen werden halten«, sagte Amber und runzelte die Brauen. Sie langte nach dem Schürhaken, um vereinzelte Glutstückchen ins Herdfeuer zu kehren, und mit einem Schlag entfachte sie in dem Haufen die Glut. »Das weiß ich. Doch unser Leben ist kurz und die Formen entwickeln sich langsam. Wenn Rok nur heute noch wäre, was es einst war - wenn wir mehr mit dem wahren Können begabte Leute hätten, die sich hier versammeln, wenn wir lehren, lernen und bewahren könnten...«
»Wenn Rok heute noch wäre, was es einst war, bekannt für seine Stärke, kämen jene wieder, die uns fürchten, um uns zu zerstören«, gab Veil zu bedenken.
»Das Geheimnis liegt in der Geheimhaltung«, erklärte Medra. »Das Problem aber auch.«
»Unser Problem sind die Männer«, sagte Veil, »verzeih, lieber Bruder. Männer sind für andere Männer wichtiger als Frauen und Kinder. Wir könnten hier fünfzig Hexen haben und sie würden uns gar nicht beachten. Aber wenn sie wüssten, dass wir fünf Männer der Macht hier hätten, würden sie uns wieder vernichten.«
»Obwohl es also Männer unter uns gab, waren wir doch die Frauen von der Hand«, sagte Amber.
»Und ihr seid es immer noch«, ergänzte Medra. »Anieb war eine von euch. Sie, ihr und wir alle leben in demselben Gefängnis.«
»Was können wir tun?«, fragte Veil.
»Unsere Kraft kennen lernen!«, erwiderte Medra.
»Eine Schule«, schlug Amber vor. »Wo die Weisen voneinander lernen können, wo man die Formen studiert... Der Hain würde uns schützen.«
»Die Kriegsherren verachten Schüler und Lehrer«, sagte Medra.
»Ich glaube, sie fürchten sie auch«, meinte Veil.
So redeten sie in diesem langen Winter und andere redeten mit ihnen. Langsam wurde beim Reden aus der Vision eine Absicht, aus dem Wunsch ein Plan. Veil war immer vorsichtig und warnte vor Gefahren. Der weißhaarige Dune war so eifrig, dass Amber meinte, er wolle jedem Kind in Thwil die Zauberkunst beibringen. So-bald Amber zu der Überzeugung gelangt war, dass die Freiheit von Rok darin lag, anderen Freiheit zu schenken, setzte sie ihr ganzes Sinnen und Trachten daran herauszufinden, wie die Frauen von der Hand wieder zu Macht gelangen konnten. Ihr Geist, von den langen einsamen Aufenthalten unter den Bäumen geprägt, war stets um Form und Klarheit bemüht, und sie fragte: »Wie können wir unsere Kunst unterrichten, wenn wir nicht wissen, was sie ist?«
Und sie redeten darüber, alle weisen Frauen der Insel redeten miteinander darüber: was die wahre Kunst der Magie war und wo sie verfälscht wurde; wie das Gleichgewicht der Dinge erhalten wurde und wo es verloren ging; welche magischen Künste sinnvoll, welche nützlich und welche gefährlich waren; warum manche Menschen die eine Begabung hatten und keine andere und ob sie eine Kunst erlernen konnten, für die sie keine natürliche Begabung hatten. In derartigen Gesprächen erarbeiteten sie sich die Namen, mit denen die magischen Künste seither benannt werden: Finden, Wettermachen, Verwandeln, Heilen, Gebieten, Formgeben, Namengeben und die Kunst der Tricks und Illusionen sowie die Kenntnis der Lieder. Das sind auch heute noch die Künste der Meister von Rok, obwohl der Sänger an die Stelle des Finders getreten ist, als das Finden nur noch als nützliche Fähigkeit, eines Magiers nicht würdig, betrachtet wurde.
Und in diesen Gesprächen nahm die Schule von Rok ihren Anfang.
Manche behaupten, die Anfänge der Schule seien ganz anders gewesen. Sie sagen, Rok sei von einer Frau regiert worden, der Dunklen Frau, die in Verbindung mit den Urmächten der Erde stand. Sie sagen, sie habe in einer Höhle unter dem Rokkogel gelebt und sei nie ans Tageslicht getreten, habe jedoch über Land und See ihre Zauber gewirkt, die die Menschen ihrem bösen Willen unterwarfen, bis der erste Erzmagier nach Rok kam, in ihre Höhle eindrang, die Dunkle Frau besiegte und an ihre Stelle trat.
Diese Geschichte ist nur in einem Punkt wahr, dass nämlich tatsächlich einer der ersten Meister von Rok eine große Höhle
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