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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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zwischen den Strohlagen des Daches erkennbar waren, und zitterte vor Wut. Seeschwalbe jagte ihn zum Boot zurück, bevor er aus der Haut fahren konnte.
    »Das war nur das Handbuch eines Tierheilers«, räumte Corvid ein, als sie wieder auf See waren und er sich beruhigt hatte. »>Spatkrank< habe ich entziffert und irgendetwas von Schafeutern. Aber diese Unwissenheit! Diese Dummheit! Sein Dach damit zu decken!«
    »Und das war nützliches Wissen«, sagte Seeschwalbe.
    »Wie sollen die Leute denn anders als dumm sein, wenn das Wissen nicht bewahrt, nicht weitergegeben wird? Wenn man die Bücher an einem Ort zusammenbringen könnte...«
    »Wie die Bibliothek der Könige«, ergänzte Corvid, verlorener Größe nachhängend.
    »Oder deine Bibliothek«, meinte Seeschwalbe, der feinfühliger geworden war als früher.
    »Stückwerk«, entgegnete Corvid, sein Lebenswerk verleugnend. »Reste!«
    »Anfänge«, sagte Seeschwalbe.
    Corvid seufzte nur.
    »Ich glaube, wir können wieder nach Süden fahren«, meinte Seeschwalbe und steuerte in den offenen Kanal hinaus. »Nach Pody.«
    »Du verstehst dich aufs Geschäft«, sagte Corvid. »Du weißt, wo du nachschauen musst. Steuerst geradewegs auf das Bestiarium in der Scheune zu... Aber hier gibt es nicht viel zum Nachschauen. Nichts Wichtiges. Ath hätte das größte aller Lehrbücher doch nicht bei Bauern gelassen, die es zum Dachdecken verwenden! Bring uns nach Pody, wenn du willst. Und dann zurück nach Orrimy. Ich bin jetzt bald genug herumgekommen.«
    »Und wir haben keine Knöpfe mehr«, warf Seeschwalbe ein. Er war fröhlich; beim Gedanken an Pody war er sofort sicher gewesen, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. »Vielleicht kann ich unterwegs welche auftreiben«, sagte er. »Das ist meine Gabe, wie du weißt.«
    Keiner von ihnen war je auf Pody gewesen. Es war eine verschlafene südliche Insel mit einer schönen alten Hafenstadt, Telio, errichtet aus rosafarbenem Sandstein, und mit Feldern und Obstgärten, die fruchtbar hätten sein können. Aber die Lords von Wathort hatten ein Jahrhundert lang hier geherrscht, hatten Steuern erpresst und Sklaven gemacht und Land und Leute he-runtergewirtschaftet. Die sonnigen Straßen von Telio waren traurig und schmutzig. Die Leute lebten darin wie in der Wildnis, in Zelten und unter zerrissenen Planen oder gänzlich im Freien. »Oh, hier gibt es nichts zu holen«, sagte Corvid voller Abscheu, wobei er einem Haufen menschlicher Exkremente auswich. »Solche Wesen haben keine Bücher, Seeschwalbe!«
    »Warte, warte«, beschwichtigte ihn sein Gefährte. »Gib mir einen Tag Zeit.«
    »Das ist gefährlich«, sagte Corvid, »und es ist sinnlos.« Aber er erhob keine weiteren Einwände. Der bescheidene, naive junge Mann, dem er das Lesen beigebracht hatte, war zu seinem unerforschlichen Führer geworden.
    Er folgte ihm eine der Hauptstraßen hinunter und von dort in ein Viertel mit kleinen Häusern, das alte Weberviertel. Auf Pody wurde Flachs angebaut, es gab steinerne Rösthäuser, die größtenteils leer standen, und durch die Fenster einiger Häuser sah man Webstühle. Auf einem schattigen kleinen Platz, geschützt vor der heißen Sonne, saßen vier oder fünf Frauen spinnend am Brunnen. In der Nähe spielten Kinder lustlos in der Hitze; gleichgültig starrten sie die Fremden an. Seeschwalbe war unverzüglich auf sie zugegangen, als ob er wüsste, wohin er ging. Jetzt blieb er stehen und begrüßte die Frauen.
    »Oh, hübscher junger Mann«, sagte eine von ihnen mit einem Lächeln, »brauchst uns erst gar nicht zu zeigen, was du da in deinem Sack hast, denn ich habe einen Monat lang schon keinen Pfennig mehr gesehen, weder in Kupfer noch in Elfenbein.«
    »Aber vielleicht habt Ihr stattdessen ja etwas Leinen, Mistress? Gewebt oder als Garn? Das Leinen von Pody ist das beste, das erzählt man sich sogar in Havnor. Und ich sehe auch den Wert dessen, was Ihr da spinnt. Wunderschönes Garn ist das.« Corvid sah seinem Begleiter belustigt und leicht verächtlich zu; um ein Buch konnte er geschickt feilschen, aber mit gewöhnlichen Frauen über Knöpfe und Garn zu schwatzen, das war unter seiner Würde. »Lasst mich den nur öffnen«, sagte Seeschwalbe, wobei er seinen Sack auf das Pflaster leerte, und die Frauen und die schmutzigen Kinder kamen schüchtern näher, um die Wunder zu bestaunen, die er ihnen zu bieten hatte. »Webstoff suchen wir und ungefärbtes Garn und anderes noch; auch Knöpfe brauchen wir. Hättet Ihr vielleicht

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