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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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sie. »Unsere Seelen sind hungrig«, sagte Amber.
    Sie lebte mit Medra zusammen in dessen kleinem Haus unweit vom Netze-Haus, obwohl sie viele Tage mit ihrer Schwester Veil verbrachte. Amber und Veil waren kleine Mädchen gewesen auf einem Bauernhof bei Thwil, als die Räuber von Wathort einfielen. Ihre Mutter versteckte sie in einer Wurzelhöhle beim Haus und setzte dann ihre Zaubersprüche ein, um ihren Mann und ihre Brüder zu schützen, die sich nicht versteckten, sondern die Räuber offen angriffen. Sie wurden geschlachtet wie ihr Vieh. Haus und Hof wurden in Brand gesetzt. Diese Nacht und die folgenden hatten die Mädchen in der Wurzelhöhle verbracht. Nachbarn, die schließlich kamen, um die verwesenden Rinderkadaver zu begraben, fanden die beiden Mädchen, still, halb verhungert und mit einer Hacke und einer zerbrochenen Pflugschar bewaffnet, um die Steinhügel zu verteidigen, die sie über ihren Toten aufgeschichtet hatten.
    Medra kannte diese Geschichte nur andeutungsweise von Amber. Veil, die drei Jahre älter war als Amber und sich deutlich erinnerte, erzählte sie ihm in dieser Nacht ganz. Amber saß bei ihnen und hörte still zu.
    Im Austausch erzählte er Veil und Amber vom Bergwerk von Samory, vom Zauberer Gelluk und von Anieb, der Sklavin.
    Als er fertig war, schwieg Veil lang, dann sagte sie: »Das hast du also gemeint, ganz am Anfang, als du hierher kamst: Ich konnte eine, die mich gerettet hat, nicht retten.«
    »Und du hast mich gefragt: Was kannst du mir sagen, damit ich dir vertraue?«
    »Jetzt hast du es mir erzählt.«
    Medra nahm ihre Hand und presste die Stirn dagegen. Während er seine Geschichte erzählte, hatte er die Tränen zurückgehalten. Jetzt gelang ihm dies nicht mehr.
    »Sie hat mir die Freiheit gegeben«, sagte er. »Und immer noch fühle ich, dass alles, was ich tue, durch sie und für sie geschieht. Nein, nicht für sie. Was können wir schon für die Toten tun? Aber für...«
    »Für uns«, sagte Amber. »Für uns, die wir am Leben sind und uns verstecken, weder getötet noch tötend. Die Toten sind tot. Die Großen und Mächtigen gehen unbehelligt ihrer Wege. Alle Hoffnung dieser Welt liegt bei den einfachen Leuten.«
    »Müssen wir uns für immer verstecken?«
    »So redet ein Mann«, sagte Veil mit ihrem freundlichen, verletzlichen Lächeln.
    »Ja«, sagte Amber. »Wir müssen uns verstecken, notfalls für immer. Denn es gibt nichts mehr außer Töten oder Getötetwerden, jenseits von unseren Küsten. Du sagst es und ich glaube es.«
    »Aber wahre Macht kann man nicht verborgen halten«, erwiderte Medra. »Nicht lang. Sie stirbt ab, wenn man sie verbirgt und nicht teilt.«
    »Auf Rok stirbt die Magie nicht«, sagte Veil. »Auf Rok ist aller Zauber stark. Das hat Ath selbst gesagt. Und du bist unter den Bäumen gewandelt... Unsere Aufgabe muss sein, diese Stärke zu erhalten - sie zu verbergen, ja. Sie horten, wie ein junger Drache sein Feuer hortet. Und sie teilen, aber nur hier. Sie weitergeben, an den Nächsten, hier, wo sie sicher ist und wo die großen Räuber und Mörder am wenigsten danach suchen würden, weil hier nur einfache Leute leben. Und eines Tages wird der Drache in seine Stärke eintreten. Und wenn es tausend Jahre dauern sollte...«
    »Aber außerhalb von Rok«, sagte Medra, »gibt es einfache Leute, die schuften und sich abrackern und im
    Elend sterben. Müssen sie tausend Jahre so weitermachen, ohne Hoffnung?«
    Er schaute von einer Schwester zu anderen: die eine so milde und unnachgiebig, die andere unter ihrer Strenge rasch und zart wie das erste Auflodern eines Feuers.
    »Auf Havnor«, sagte er, »weit von Rok entfernt, in einem Dorf am Berg Onn, unter Leuten, die nichts wissen von der Welt, gibt es immer noch Frauen von der Hand. Dieses Netz ist in all diesen Jahren nicht zerrissen. Wie ist es gewebt worden?«
    »Kunstvoll«, sagte Amber.
    »Und weit verzweigt!« Wieder schaute er von der einen zur anderen. »Man hat mir nicht das Richtige gesagt in der Stadt Havnor«, sagte er. »Meine Lehrer haben mir beigebracht, Magie für keine schlechten Zwecke einzusetzen, aber sie lebten in Angst und zeigten keine Stärke gegenüber den Starken. Sie haben mir alles gegeben, was sie zu geben hatten, doch es war wenig. Es ist nur dem Glück zu verdanken, dass ich nicht verloren ging. Und der Stärke, die Anieb mir schenkte. Ohne sie wäre ich jetzt Gelluks Sklave. Aber sie selbst war überhaupt nicht ausgebildet und war versklavt. Wenn Zauberkraft von den Besten

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