Das Vermächtnis von Erdsee
öffnete und in sie eindrang. Doch diese Höhle war nicht auf Rok, obwohl in den Wurzeln von Rok alle Inseln verwurzelt sind.
Und es stimmt, dass zur Zeit von Medra und Elehal die Menschen auf Rok, Männer wie Frauen, keine Angst vor den Urmächten hatten, sondern sie verehrten, Kraft und Einsicht daraus zogen. Doch das änderte sich in späteren Jahren.
Der Frühling kam spät in diesem Jahr, kalt und stürmisch. Medra begann ein Boot zu bauen. Als die Pfirsichblüte kam, hatte er ein schlankes, robustes Hochseefischerboot in der in Havnor üblichen Bauweise fertig gestellt. Er nannte es Hoffnung. Wenig später segelte er darauf aus der Thwil-Bucht hinaus, ohne Begleitung. »Erwarte mich gegen Ende des Sommers«, sagte er zu Amber.
»Ich bin im Hain«, sagte sie. »Und mein Herz ist bei dir, mein dunkler Otter, meine weiße Seeschwalbe, meine Liebe, Medra.«
»Und meins bei dir, meine Feuersglut, mein blühender Baum, meine Liebe, Elehal.«
Auf seiner ersten Findereise segelte Medra oder Seeschwalbe, wie er genannt wurde, durch das Innenmeer in Richtung Norden nach Orrimy, wo er ein paar Jahre zuvor schon gewesen war. Dort gab es Leute von der Hand, denen er vertraute. Einer von ihnen war ein Mann namens Corvid, ein reicher Einsiedler, der keinerlei magische Begabung besaß, aber eine große Leidenschaft für alles Geschriebene hegte, für alte Bücher und Geschichtswerke. Es war Corvid, der, wie er von sich sagte, Seeschwalbe mit der Nase auf ein Buch gestoßen hatte, sobald er nur lesen konnte. »Ungebildete Zauberer sind der Fluch der Erdsee!«, rief er. »Macht ohne Wissen ist ein Verhängnis.« Corvid war ein eigenartiger Mann, willensstark, hochmütig, großzügig und mutig in der Verfolgung seiner Leidenschaft. Jahre zuvor hatte er Losens Macht herausgefordert, indem er verkleidet nach Havnor-Hafen gegangen war und vier Bücher aus einer alten königlichen Bibliothek von dort mitgebracht hatte. Gerade hatte er aus Weg einen obskuren Traktat über Quecksilber bekommen und war mächtig stolz darauf. »Das habe ich Losen auch vor der Nase weggeschnappt«, sagte er zu Seeschwalbe. »Komm und wirf einen Blick darauf. Es hat einem berühmten Zauberer gehört.«
»Tinaral«, sagte Seeschwalbe. »Ich habe ihn gekannt.«
»Das Buch taugt nichts, nicht wahr?«, meinte Corvid, der den kleinsten Wink verstand, wenn es um Bücher ging.
»Ich weiß nicht. Ich bin auf der Jagd nach größerer Beute.«
Corvid legte den Kopf schief.
»Das Buch der Namen.«
»Mit Ath verloren gegangen, als sie nach Westen zogen«, sagte Corvid.
»Ein Magier mit Namen Erpel hat mir erzählt, dass Ath, als er auf Pendor war, das Buch der Namen einer Frau auf den Neunzig Inseln zur Verwahrung gab.«
»Einer Frau! Zur Verwahrung! Auf den Neunzig Inseln! Ja, war er denn verrückt?«
Corvid schimpfte, aber allein bei dem Gedanken, das Buch der Namen könnte noch existieren, war er bereit, sofort zu den Neunzig Inseln aufzubrechen, sobald Seeschwalbe wollte.
So segelten sie auf der Hoffnung in Richtung Süden, landeten zuerst im stinkenden Geath, und dann fuhren
sie, als Hausierer verkleidet, durch das Gewirr von Kanälen von einer Insel zur anderen. Corvid hatte bessere Ware geladen, als die meisten Haushalte auf den Inseln gewohnt waren, und Seeschwalbe bot sie zu günstigen Preisen an, meist im Tauschhandel, da bei den Inselbewohnern nicht viel Geld im Umlauf war. Ihr Ruf eilte ihnen voraus. Es war bekannt, dass sie im Tausch Bücher nahmen, wenn die Bücher alt und unheimlich waren. Aber auf den Inseln waren alle Bücher - oder was von ihnen übrig war -, alt und unheimlich.
Corvid war entzückt, als er im Tausch gegen fünf Silberknöpfe, ein Messer mit Perlmuttgriff und ein Stück Lorbanery-Seide ein stockfleckiges Bestiarium aus der Zeit von Akambar bekam. Er saß er auf der Hoffnung und summte leise die alten Beschreibungen von Rentieren, Otaks und Eisbären vor sich hin. Aber Seeschwalbe ging auf jeder Insel an Land, breitete seine Waren in den Küchen vor den Hausfrauen und in den verschlafenen Schenken aus, wo die alten Männer saßen. Manchmal machte er nachlässig eine Faust, drehte sie um und öffnete die Handfläche, aber niemand erwiderte hier das Zeichen.
»Bücher?«, fragte der Korbflechter auf Nord-Sudidi. »Wie dieses hier?« Er deutete auf lange Pergamentstreifen, die ins Strohdach seines Hauses eingearbeitet worden waren. »Sind die auch für was anderes gut?« Corvid starrte auf die Worte, die hier und da
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