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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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ihr glänzendes schwarzes Haar zu fühlen. Wenn sie ihn plötzlich aus heiterem Himmel finster ansah, hatte er gemeint, sie sei böse auf ihn. Er hatte Angst, sie zu kränken oder zu beleidigen. Wovor hatte sie Angst? Vor seinem Verlangen? Ihrem eigenen? Aber sie war kein unerfahrenes Mädchen, sie war eine weise Frau, eine Magierin, sie wanderte durch den Immanenten Hain und verstand die natürliche Schrift der Schatten!
    All das brach auf einmal über ihn herein wie ein Wasserschwall, der einen Damm zerstört, während er mit Veil am Waldrand stand. »Ich hatte gedacht, Magier leben enthaltsam«, sagte er schließlich. »Erpel hat mir erzählt, wenn man Liebe macht, wird die Macht zunichte.«
    »Weise Männer behaupten das«, sagte Veil milde, lächelte noch einmal und verabschiedete sich.
    Den ganzen Nachmittag über war er verwirrt und ärgerlich. Als Amber aus dem Hain zu ihrer Blattlaube etwas weiter flussaufwärts zurückkehrte, nahm er Veils Korb als Vorwand und ging zu ihr. »Kann ich mit dir reden?«, fragte er.
    Sie nickte nur kurz und runzelte die schwarzen Brauen.
    Er schwieg. Sie hockte sich nieder, um zu sehen, was der Korb enthielt. »Pfirsiche!«, rief sie und lächelte.
    »Mein Meister Erpel behauptet, Magier, die Liebe machen, vernichten ihre Macht«, platzte er heraus.
    Sie sagte nichts darauf, breitete den Inhalt des Korbes aus und teilte ihn für sie beide.
    »Meinst du, das ist wahr?«, fragte er.
    Sie zuckte die Achseln. »Nein«, sagte sie.
    Sprachlos stand er da. Nach einer Weile sah sie zu ihm auf. »Nein«, sagte sie mit weicher, ruhiger Stimme. »Ich glaube nicht, dass das wahr ist. Ich glaube, alle wahre Macht, alle Urmächte sind im Grunde eins.«
    Er stand noch immer da und sie sagte: »Schau dir die Pfirsiche an! Sie sind ganz reif. Wir müssen sie gleich essen.«
    »Wenn ich dir meinen Namen nennen würde«, hob er an, »meinen wahren Namen...«
    »Würde ich dir meinen nennen«, sagte sie. »Wenn es... wenn es so anfangen muss.«
    Sie fingen jedenfalls mit den Pfirsichen an.
    Beide waren scheu. Als Medra ihre Hand ergriff, zitterte die seine, und Amber, deren Name Elehal war, wandte sich sti rn runzelnd ab. Dann berührte sie seine Hand, ganz sacht. Als er über den glatten schwarzen Fluss ihres Haars strich, schien sie seine Berührung nur zu dulden und er hielt inne. Als er sie zu umarmen versuchte, wurde sie steif und wies ihn ab. Dann wandte sie sich um und schloss ihn wild, hastig und ungeschickt in die Arme. Weder die erste Nacht noch die darauffolgenden Nächte schenkten ihnen sonderlich viel Lust oder Behagen. Doch sie lernten voneinander und durch Scham und Angst hindurch fanden sie zur Leidenschaft. Und dann waren ihnen die langen Tage im Schweigen der Wälder und die langen sternklaren Nächte eine Lust.
    Als Veil von der Stadt heraufkam und ihnen die letzten späten Pfirsiche brachte, lachten sie: Pfirsiche waren das Wahrzeichen ihres Glücks. Sie baten sie, zum Abendessen zu bleiben, aber sie wollte nicht. »Bleibt hier, so lange ihr könnt«, riet sie.
    Der Sommer ging früh zu Ende dieses Jahr. Der Regen setzte früh ein; im Frühherbst fiel der erste Schnee, sogar auf Rok, das so weit im Süden lag. Ein Sturm folgte dem anderen, als ob sich die Winde gegen das Treiben der klugen Männer erhoben hätten. Frauen saßen in den verlassenen Bauernhäusern gemeinsam am Feuer; die Menschen scharten sich um die Herdfeuer in Thwil. Sie lauschten dem Wind, wie er blies, und sie lauschten dem Regen, wie er fiel, lauschten der Stille des Schnees. Außerhalb der Thwil-Bucht tobte und brandete die See gegen die Riffe und Felsen an den Küsten der Insel; kein Boot wagte sich da hinaus.
    Was sie hatten, teilten sie. Darin war Rok wirklich Morreds Insel. Niemand musste auf Rok Hunger leiden oder ohne Dach über dem Kopf bleiben, obwohl niemand viel mehr hatte als das Notwendige. Abgeschirmt vom Rest der Welt, nicht nur durch Meer und Sturm, sondern auch durch die Verteidigungszauber, die die Insel verbargen und die Schiffe in die Irre leiteten, arbeiteten sie und sprachen miteinander und sangen ihre Gesänge, das Winterlied und Die Heldentaten des Jungen Königs. Und sie hatten Bücher, die Chronik von Enlad und die Geschichte der weisen Helden. Alte Männer und Frauen lasen in einem Saal unten bei der Werft aus diesen Büchern vor und sie zündeten ein
    Feuer an. Sogar vom anderen Ende der Insel kamen die Leute herbei, um die Geschichten zu hören; still und aufmerksam lauschten

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