Das Vermächtnis von Erdsee
sie, was er war. Hatte sie ihn hierher gerufen?
»Ich bin ein Finder«, sagte er. »Und ein Sucher.«
»Kannst du sie unterrichten?«
»Ich kann sie zu denen mitnehmen, die es können.«
»Tu es.«
»Ich werde es tun.«
Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Von der Inbrunst dieses Willens erschüttert, richtete Seeschwalbe sich auf und holte tief Luft. Er sah sich nach dem Mädchen Dora um. Sie erwiderte seinen Blick nicht, sondern betrachtete ihre Mutter mit sturem, mürrischem Leid. Erst als die Frau in tiefen Schlaf gesunken war, half sie Rasch, die sich als Freundin und Nachbarin nützlich gemacht hatte, indem sie die blutgetränkten Tücher aufsammelte, die um das Bett verstreut lagen.
»Eben erst hat sie wieder geblutet und ich konnte es nicht aufhalten«, sagte Dora. Tränen liefen ihr aus den Augen und über die Wangen. Ihr Gesicht änderte sich kaum.
»O Kind, o Lämmchen«, murmelte Rasch und umarmte das Mädchen; doch selbst als es sich an Rasch klammerte, verharrte es in völliger Erstarrung.
»Sie geht dorthin, auf die Wand zu, und ich kann sie nicht begleiten«, klagte Dora. »Sie geht allein und ich kann nicht mitkommen. Kannst du nicht dorthin gehen?« Sie machte sich von Rasch los und sah wieder Seeschwalbe an. »Du kannst dorthin gehen!«
»Nein«, sagte er, »ich kenne den Weg nicht.«
Doch während Dora sprach, sah er, was das Mädchen sah: einen lang gestreckten Hügel, der in die Dunkelheit hinabführte, und dahinter, am Rande des Zwielichts, eine niedrige Steinmauer. Und als er hinschaute, meinte er, neben der Mauer eine Frau zu sehen, sehr dünn, substanzlos, nur Knochen und Schatten. Aber es war nicht die sterbende Frau im Bett. Es war Anieb.
Dann war das Bild verschwunden und er stand dem Hexenmädchen Dora gegenüber. Ihr anklagender Blick veränderte sich langsam. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Wir müssen sie gehen lassen«, sagte er.
Sie sagte: »Ich weiß.«
Rasch sah mit ihren eindringlichen, strahlenden Augen vom einen zur anderen. »Nicht nur ein hübscher
Mann«, sagte sie, »sondern auch ein mit Kräften begabter Mann. Nun, du bist nicht der Erste.«
Sein Blick war eine Frage.
»Dies hier wird Aths Haus genannt«, sagte sie.
»Er hat hier gelebt«, erklärte Dora und einen Moment lang brach Stolz durch ihren hilflosen Schmerz. »Der Magier Ath. Vor hunderten von Jahren. Bevor er in den Westen zog. Alle meine weiblichen Vorfahren waren weise Frauen. Er hat hier gelebt. Mit ihnen.«
»Gib mir eine Schüssel«, bat Rasch. »Ich will Wasser holen, um die Tücher einzuweichen.«
»Ich hole das Wasser«, sagte Seeschwalbe und ging in den Hof hinaus zum Brunnen. Wie zuvor saß Corvid am Brunnenrand, gelangweilt und unruhig.
»Warum vergeuden wir hier unsere Zeit?«, fragte er und Seeschwalbe ließ den Eimer hinunter in den Brunnen. »Machst du jetzt Boten-und Trägerdienste für Hexen?«
»Ja«, sagte Seeschwalbe, »und ich werde dies tun, bis sie stirbt. Und dann nehme ich ihre Tochter mit nach Rok. Und wenn du das Buch der Namen lesen willst, kannst du mit uns kommen.«
So geschah es, dass der erste Schüler der Schule von Rok von jenseits des Meeres kam, ebenso wie ihr Bibliothekar. Das Buch der Namen, das jetzt in einem gesonderten Turm aufbewahrt wird, war die Grundlage des Wissens und Ausgangspunkt für die Methode des Namengebens, welches die Basis der Magie von Rok überhaupt ist. Das Mädchen Dora, die ihre Lehrer lehrte, wie es hieß, wurde Meisterin in allen Heilkünsten und der Kräuterkunde und hielt diese Meisterschaft in Rok in hohem Ansehen. Corvid, der sich nicht einmal für die Dauer eines Monats vom Buch der Namen trennen konnte, ließ sich seine eigenen Bücher von Orrimy schicken und machte sich mit ihnen in Thwil ansässig.
Er gestattete den Leuten, sie zu studieren, solange sie ihnen und ihm den gehörigen Respekt erwiesen.
So war für Seeschwalbe der Jahresablauf festgelegt. Im Spätfrühling fuhr er auf der Hoffnung hinaus, suchte und fand Leute für die Schule auf Rok - meist Kinder und junge Leute mit einer Begabung für Magie, manchmal erwachsene Männer und Frauen. Die Mehrzahl der Kinder war arm, und obwohl er keines von ihnen gegen seinen Willen mitnahm, erfuhren ihre Eltern oder Lehrer doch selten die Wahrheit: Seeschwalbe war ein Fischer, der für die Arbeit auf dem Boot einen Jungen brauchte, oder ein Mädchen, das Weben lernen sollte, oder er kaufte Sklaven für seinen Herrn auf einer anderen Insel. Wenn
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