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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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wieder so nahe gekommen. Wie lang war das jetzt her? Sechzehn, siebzehn Jahre. Niemand würde ihn erkennen, niemand würde sich an den Jungen Otter erinnern, außer Otters Mutter, sein Vater und seine Schwester, wenn sie noch am Leben waren. Und sicher gab es andere Leute von der Hand in Großhafen. Obwohl er als Junge nichts von ihnen gewusst hatte, würde er sie jetzt kennen lernen.
    Er segelte durch die breite Meerstraße, bis der Berg Onn hinter den Hügeln an der Öffnung der Bucht von Havnor verschwand. Er würde ihn nicht Wiedersehen, wenn er nicht durch diese schmale Passage segelte. Dann würde er den Berg sehen, die geschwungene Linie seines Kamms über den ruhigen Gewässern, die er, als er zwölf war, mit einem Zauberwind aufzuwühlen versucht hatte; und wenn er weitersegelte, würde er die Türme aus dem Wasser aufsteigen sehen, zuerst undeutlich, bloß Punkte und Linien, dann mit ihren leuchtenden Fahnen: die weiße Stadt im Herzen der Welt.
    Es war pure Feigheit, wenn er jetzt nicht nach Havnor fuhr, Angst um die eigene Haut, Angst davor, womöglich feststellen zu müssen, dass seine Leute tot waren, Angst davor, sich zu deutlich an Anieb zu erinnern.
    Denn zuweilen hatte er das Gefühl, so wie er sie als Lebendige beschworen hatte, so könnte sie ihn als Tote beschwören. Die Verbindung zwischen ihnen, die sie zusammengeschlossen hatte und ihr erlaubt hatte, ihn zu retten, war nicht abgerissen. Oft war sie ihm im Traum erschienen, still stand sie dann da, wie damals, als er sie zum ersten Mal in dem stinkenden Turm von Samory gesehen hatte. Und Jahre später hatte er sie in der Vision bei der Heilerin in Telio wiedergesehen, im Zwielicht bei der Steinmauer. Von Elehal und anderen in Rok wusste er mittlerweile, welche Bedeutung diese Wand hatte. Sie trennte die Lebenden von den Toten. Und in jener Vision war Anieb auf dieser Seite der Mauer gegangen, nicht auf der Seite, die ins Dunkel hinunterführte.
    Hatte er Angst vor ihr, die ihn befreit hatte?
    Er kreuzte vor dem kräftigen Wind, schwenkte um den Südpunkt herum und segelte in die große Bucht von Havnor.
     
    Immer noch wehten Fahnen auf den Türmen der Stadt Havnor und immer noch herrschte dort ein König; die Fahnen hatten eroberten Städten und Inseln gehört und König war der Kriegsherr Losen. Losen verließ seinen Palast aus Marmor nie, den ganzen Tag saß er dort, bedient von Sklaven, und sah den Schatten des Schwerts von Erreth-Akbe wie den Schatten einer großen Sonnenuhr über die Dächer gleiten. Er erteilte Befehle und die Sklaven sagten: »Es ist ausgeführt, Majestät.« Er hielt Audienzen und alte Männer kamen und sagten: »Wir gehorchen Eurem Befehl, Majestät.« Er rief seine Zauberer zusammen und der Magier Früh kam und verneigte sich tief. »Mach, dass ich gehen kann!«, schrie Losen und schlug sich mit kraftlosen Händen auf die gelähmten Beine. Der Magier sagte: »Majestät, meine bescheidene Kunst war, wie Ihr wisst, nicht ausreichend, aber ich habe nach dem größten Heiler der ganzen Erdsee geschickt, der im fernen Narveduen lebt, und wenn er kommt, wird Eure Hoheit wieder gehen können, jawohl, und den Langtanz tanzen.«
    Dann fluchte und weinte Losen, und seine Sklaven brachten ihm Wein, der Magier zog sich unter Verbeugungen zurück und versicherte sich unterdessen, dass der Lähmungszauber anhielt.
    Es war wesentlich günstiger für ihn, wenn Losen der König war, als wenn er selbst offen die Herrschaft übernommen hätte. Männer der Waffen trauen Männern der Magie nicht, und sie mögen es nicht, wenn sie sich ihnen unterordnen müssen. Wie groß die Macht eines Magiers auch sein mochte, er konnte Heere und Flotten nicht Zusammenhalten, wenn Soldaten und Seeleute nicht zum Gehorsam bereit waren. Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, Losen zu fürchten und ihm zu gehorchen, eine alte Gewohnheit mittlerweile und lang vertraut. Sie schrieben ihm Fähigkeiten zu, die er einst gehabt hatte, wie kühne Kriegführung, unerschütterliche Führerschaft und äußerste Grausamkeit; und sie schrieben ihm Fähigkeiten zu, die er nie besessen hatte, wie Herrschaft über die Zauberer in seinen Diensten.
    Es gab keine Magier mehr in Losens Diensten außer Früh und einige andere harmlose Zauberer. Früh hatte sämtliche Rivalen um Losens Gunst einen nach dem anderen verjagt oder ermorden lassen und herrschte nun schon seit einigen Jahren allein über Havnor.
    Als Gelluks Lehrling und Assistent hatte er einst seinen Meister

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