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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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geheimer Name für sie.
    Sie sagte nichts, atmete aber sehr warm in sein Ohr und er stöhnte. Seine Hände pressten die ihren. Er wich etwas zurück. Sie wich zurück.
    Sie hockten sich auf ihre Knöchel.
    »O Di«, sagte sie, »es wird schrecklich sein, wenn du gehst.«
    »Ich werde nicht gehen«, sagte er. »Nirgendwohin. Nie.«
    Aber natürlich ging er doch nach zum Südhafen hinunter, fuhr auf einem der Wagen seines Vaters, gelenkt von einem der Fuhrknechte seines Vaters, zusammen mit Meister Hemlock. In der Regel tun Leute, was Zauberer ihnen sagen. Und es ist keine geringe Ehre, von einem Zauberer gebeten zu werden, sein Lehrling oder Schüler zu werden. Hemlock, der sich seinen Stab in Rok erworben hatte, war es gewohnt, dass Jungen zu ihm kamen und ihn baten, sie auf die Probe zu stellen, und wenn er fand, dass sie begabt waren, unterrichtete er sie. Er war etwas erstaunt über diesen Jungen, hinter dessen erfreulich guten Manieren sich ein Widerwille oder ein Selbstzweifel verbargen. Es war die Idee des Vaters, nicht die des Jungen, dass er begabt war. Das war ungewöhnlich, wenn auch vielleicht bei den Reichen nicht ganz so ungewöhnlich wie bei den einfachen Leuten. Jedenfalls kam er mit einem üppigen Lehrgeld, das in Gold und Elfenbein im Voraus bezahlt wurde. Wenn er die Anlage zum Magier hatte, würde Hemlock ihn ausbilden, und wenn er, wie Hemlock vermutete, nur einen kindlichen Anflug davon zeigte, dann würde er mit dem, was von dem Lehrgeld übrig blieb, nach Hause geschickt werden. Hemlock war ein ehrlicher, aufrechter, humorloser Zaubererlehrer, der wenig übrig hatte für neue Einfälle oder Gefühle. Seine Begabung waren die Namen. »Das Namengeben ist der Anfang und das Ende der Kunst«, sagte er, was in der Tat so ist, wenngleich zwischen Anfang und Ende vieles liegen kann.
    So saß Diamant, statt Zaubertricks und Täuschungen und Verwandlungen und all dies bunte Zeug zu lernen, wie Hemlock es nannte, in dem schmalen Haus des Zauberers in einem schmalen Raum nach hinten hinaus, der auf eine schmale Gasse der Altstadt ging, und lernte lange, lange Wortlisten, Worte der Macht in der Sprache des Erschaffens. Pflanzen und Teile von Pflanzen, Tiere und Teile von Tieren, Inseln und Teile von Inseln, Teile von Schiffen und Teile des menschlichen Körpers. Nie bildeten die Worte einen Sinn, nie Sätze, immer nur Aufzählungen. Lange, lange Aufzählungen.
    Im Geist schweifte er ab. >Wimper< heißt in der wahren Sprache siasa, las er und spürte, wie Wimpern in einem Schmetterlingskuss seine Wangen streiften, dunkle Wimpern. Verwirrt schaute er auf und wusste nicht, was ihn berührt hatte. Als er das Wort später wiederholen wollte, stand er stumm da.
    »Gedächtnis, alles Gedächtnis«, sagte Hemlock. »Begabung ohne Gedächtnis ist nichts wert!« Er war nicht hart, aber unerbittlich. Diamant wusste nicht, welche Meinung Hemlock von ihm hatte, und nahm an, sie sei ziemlich gering. Manchmal nahm der Zauberer ihn mit zu seiner Arbeit, hauptsächlich Schiffe und Häuser besprechen und widerstandsfähig machen, Brunnen reinigen und im Rat der Stadt den Beisitz führen, wo er fast nie redete, aber immer aufmerksam zuhörte. Ein anderer Zauberer, nicht in Rok ausgebildet wie er, mit der Gabe des Heilers, kümmerte sich um die Kranken und Sterbenden im Südhafen. Hemlock war froh, ihm das überlassen zu können. Er vertiefte sich am liebsten in seine Studien, und soweit Diamant es beurteilen konnte, vermied er es weitgehend, Magie auszuüben. »Das
    Gleichgewicht erhalten, darauf kommt es an«, sagte Hemlock, und »Wissen, Ordnung und Kontrolle«. Diese Worte sagte er so oft, dass sie in Diamants Kopf eine Art Melodie bildeten, die er wieder und wieder nachsang: Wissen, Ordnung und Kontrooo-lle...
    Wenn Diamant die Listen von Namen in eine selbst erfundene Melodie setzte, lernte er sie viel schneller; doch dann wurde die Melodie Teil des Namens, und er sang ihn in dieser Weise so klar und deutlich - seine Stimme hatte sich zu einem kräftigen, dunklen Tenor entwickelt -, dass Hemlock zusammenzuckte. In Hemlocks Haus war es nämlich immer sehr still.
    In der Regel musste der Schüler bei seinem Meister sein oder in dem Raum, wo die Lehrbücher und Wörterbücher standen, musste Namenlisten lernen oder schlafen. Hemlock achtete peinlich genau auf zeitiges Aufstehen und Zubettgehen. Doch dann und wann gab er Diamant ein oder zwei Stunden frei. Er ging stets hinunter zum Hafen und setzte sich auf den Kai oder

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