Das Vermächtnis von Erdsee
dachte...« Lange Pause. »Ich dachte, ich könnte weiter davonlaufen. Mit dir. Und Musik machen. Davon leben. Zusammen. Das habe ich sagen wollen.«
»Du hast es aber nicht gesagt.«
»Ich weiß. Ich habe alles falsch herausgebracht. Ich habe alles falsch gemacht. Ich habe alles verraten. Die Magie. Die Musik. Und dich.«
»Mir geht's gut«, sagte sie.
»Wirklich?«
»Ich bin nicht wirklich gut auf der Flöte, aber ich bin gut genug. Das, was du mir nicht beigebracht hast, kann ich durch einen Zauber ersetzen, wenn es sein muss. Und die von der Kapelle, die sind in Ordnung. Labbi ist nicht so übel, wie er aussieht. Keiner traut sich, mir gegenüber frech zu werden. Wir haben ein ziemlich gutes Auskommen. Im Winter bin ich bei Mutter und helfe ihr aus. Damit geht's mir gut. Wie sieht's bei dir aus, Di?«
»Alles falsch.«
Sie setzte an, wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben.
»Ich nehme an, wir waren Kinder«, meinte er. »Jetzt...«
»Was hat sich geändert?« »Ich habe die falsche Wahl getroffen.«
»Einmal«, sagte sie. »Oder zweimal?«
»Zweimal.«
»Beim dritten Mal ist Zauber dabei.«
Eine Weile lang sprach keiner von beiden. Sie konnte nur eben die Umrisse seiner Gestalt in den Blätterschatten erkennen. »Du bist größer und kräftiger als du warst«, sagte sie. »Kannst du noch immer Licht machen, Di? Ich möchte dich sehen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das war die eine Sache, die du konntest und ich nie. Und du hast es mir nie beigebracht.«
»Ich wusste nicht, was ich tat«, sagte er. »Manchmal funktionierte es, manchmal nicht.
»Und der Zauberer im Südhafen hat dir nicht beigebracht, wie das geht?«
»Er hat mir nur Namen beigebracht.«
»Warum kannst du es jetzt nicht machen?«
»Ich habe es aufgegeben, Schattenrose. Entweder mache ich es ganz und nichts sonst oder ich lasse es bleiben. Man muss ein ganzes Herz haben.«
»Ich sehe nicht, warum«, sagte sie. »Meine Mutter kann Fieber senken und eine Geburt erleichtern und einen verlorenen Ring finden, vielleicht ist das nichts im Vergleich zu dem, was Magier und Drachenfürsten tun können, aber nichts ist es auch nicht. Und sie hat dafür gar nichts aufgegeben. Dass sie mich bekam, konnte sie von nichts abhalten. Sie bekam mich, um zu lernen, wie man es macht. Nur weil ich von dir das Musikmachen gelernt habe, sollte ich deshalb aufhören, Zauber zu wirken? Ich kann jetzt auch ein Fieber senken. Warum solltest du das eine lassen, um das andere zu tun?«
»Mein Vater«, hob er an, brach ab und lachte kurz auf. »Sie passen nicht zusammen«, meinte er. »Geld und Musik.«
»Der Vater und das Hexenkind«, sagte Schattenrose.
Wieder war Schweigen zwischen ihnen. Die Weidenblätter raschelten.
»Würdest du zu mir zurückkommen?«, fragte er. »Würdest du mit mir gehen, mit mir leben, mich heiraten, Schattenrose?«
»Nicht im Hause deines Vaters, Di.«
»Egal wo. Weglaufen.«
»Aber du kannst mich nicht haben ohne die Musik.«
»Oder die Musik ohne dich.«
»Ja, das würde ich.«
»Braucht Labbi einen Harfenspieler?«
Sie zögerte, lachte dann. »Wohl eher einen Flötenspieler«, sagte sie.
»Ich habe nicht mehr gespielt, seitdem ich fortgegangen bin, Schattenrose«, erwiderte er. »Aber die Musik habe ich immer im Kopf gehabt, und dich...« Sie streckte ihm ihre Hände entgegen. Sie knieten einander gegenüber, die Weidenblätter wehten ihnen durchs Haar. Sie küssten sich, schüchtern zu Beginn.
In den Jahren, nachdem Diamant aus dem Haus war, verdiente Golden mehr Geld denn je zuvor. Alle seine Geschäfte brachten Gewinne. Es war, als ob das Glück ihm nicht von der Seite weichen würde und er es nicht abschütteln könnte. Er wurde immens reich. Seinem Sohn verzieh er nie. Es hätte ein gutes Ende geben können, aber er wollte es nicht. So zu gehen, ohne ein Wort, an seinem Namenstagsfest mit dem Hexenkind durchzubrennen und alle ehrbare Arbeit ungetan liegen zu lassen. Um ein fahrender Musikant zu werden, ein Harfenspieler, der für ein paar Groschen klimpert und singt und Grimassen schneidet - all das bereitete Golden nichts als Schmach, Schmerz und Kummer. So hatte er seine Tragödie.
Lange Zeit teilte Tuly sie mit ihm, da sie ihren Sohn nur hätte sehen können, wenn sie ihren Mann belogen hätte, was ihr zu schwer fiel. Sie weinte, wenn sie an ihren Diamant dachte, der Hunger litt und auf dem nackten Boden schlief. Kalte Herbstnächte waren ein Graus für sie. Doch als die Zeit verging und sie
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