Das Vermächtnis von Erdsee
den Stab, den er für ihn gemacht hatte, aus gontischer Eiche. Und als der Herr von Gonthafen wieder einmal versuchte, Dulse dazu zu überreden, in der Stadt zu wirken, was dort Not tat, schickte Dulse den Schweigsamen an seiner statt und der blieb...
Dulse stand in der Tür zu seinem Haus, drei Eier in der Hand und der Regen lief ihm kalt den Rücken herunter. Wie lange hatte er dort gestanden? Warum stand er dort? Er hatte über Schlamm nachgedacht, über den Boden, über den Schweigsamen. War er den Pfad über den Oberfell entlang gegangen? Nein, das war vor Jahren gewesen, vor Jahren und bei Sonnenschein. Es regnete. Er hatte die Hühner gefüttert und war mit drei Eiern zum Haus zurückgekommen, sie lagen noch warm in seiner Hand, seidige, braune, lauwarme Eier, und er hatte noch den Ton des Donners im Ohr, das Beben des Donners saß ihm in den Knochen, in den Füßen. Donner?
Nein. Es hatte einen Schlag getan, vor einem Weilchen. Das war kein Donner gewesen. Er hatte dieses merkwürdige Gefühl gehabt und es doch nicht wiedererkannt, wie damals, vor dem Erdbeben, durch das in Essary eine halbe Meile der Küste weggespült und in Gonthafen die Kais überschwemmt worden waren.
Er stieg die Stufen vor der Haustür hinunter bis auf den ebenen Boden, sodass er mit den Fußsohlen die Erde spüren konnte, aber der Schlamm verschmierte und verfälschte die Botschaften, die die Erde für ihn barg. Er legte die Eier vor der Tür ab, setzte sich daneben, wusch sich die Füße mit Regenwasser aus dem Eimer neben den Stufen, trocknete sie mit dem Lumpen ab, der über dem Griff des Eimers hing, nahm die Eier wieder in die Hand, stand langsam auf und ging ins Haus.
Er warf einen scharfen Blick auf seinen Stab, der in der Ecke hinter der Tür lehnte. Er legte die Eier in die Speisekammer, aß schnell einen Apfel, weil er hungrig war, und nahm seinen Stab. Er war aus Eibe, unten in Kupfer gefasst und am Griff oben seidig abgenutzt. Er hatte ihn von Nemmerle bekommen. »Steh still!«, sagte er zu ihm in seiner Sprache, »und mach weiter!« Er stand da wie festgeschraubt. »Zu den Wurzeln«, sagte er ungeduldig in der Sprache des Erschaffens. »Zu den Wurzeln!«
Er betrachtete den Stab, der auf dem schimmernden Boden stand. Bald sah er ihn zittern, ganz leicht, ein Schütteln, ein Beben.
»Ah, ah, ah«, machte der alte Zauberer.
»Was soll ich tun?«, fragte er nach einer Weile laut.
Der Stab schwankte, stand still, bebte wieder.
»Genug davon, mein Lieber«, sagte Dulse und legte seine Hand auf ihn. »Komm jetzt. Kein Wunder, dass ich dauernd über den Schweigsamen nachgedacht habe. Ich sollte nach ihm schicken... ihm etwas schicken... Nein. Was hat Ard gesagt? Finde die Mitte, finde die Mitte. Das ist es, wonach man suchen muss. Und was soll man tun...« Wie er so leise mit sich selbst redete, seinen schweren Umhang auszog, über dem kleinen Feuer, das er zuvor angezündet hatte, Wasser zum Kochen aufsetzte, fragte er sich, ob er immer Selbstgespräche geführt hatte, ob er all die Zeit über, die der Schweigsame bei ihm gelebt hatte, Selbstgespräche geführt hatte. Nein. Das war ihm zur Gewohnheit geworden, nachdem der Schweigsame fortgegangen war. Dachte er, mit jenem Bruchteil seines Geistes, der weiterhin gewöhnliche Alltagsgedanken dachte, während der übrige Teil Vorkehrungen traf gegen die Schrecken und die Zerstörung.
Er kochte die drei frischen Eier und ein weiteres, das noch in der Speisekammer gelegen hatte, hart, steckte sie zusammen mit vier Äpfeln und einem Schlauch geharzten Weins in einen Beutel, für den Fall, dass er die ganze Nacht fortbleiben musste. Steif und mit schmerzenden Gliedern warf er sich den schweren Umhang um, nahm den Stab, befahl dem Feuer auszugehen und ging.
Er hatte keine Kuh mehr. Er stand da und schaute in den Hühnerhof. Kürzlich war der Fuchs im Obstgarten gewesen. Aber das Federvieh würden zu fressen haben, falls er länger ausbleiben sollte. Sie mussten selber sehen, wie sie zurecht kamen, wie jedermann. Er öffnete das Gatter ein wenig. Obwohl der Regen jetzt in ein trübes Nieseln übergegangen war, saßen sie geduckt unter dem Vordach, untröstlich. Der König hatte heute Morgen noch kein einziges Mal gekräht.
»Habt ihr mir etwas zu sagen?«, fragte Dulse sie.
Braunbacke, sein Lieblingshuhn, schüttelte sich und sagte ein paar Mal ihren Namen. Die anderen blieben still.
»Nun, passt gut auf euch auf. Neulich nachts, bei Vollmond, habe ich den Fuchs gesehen«,
Weitere Kostenlose Bücher