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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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nicht vergeuden.«
    »Wusste Nemmerle, dass du zu mir kommen würdest, um mit mir zu arbeiten?«
    Der Schweigsame schüttelte den Kopf.
    »Wenn du dich herabgelassen hättest, ihn von deinen Plänen zu unterrichten, hätte er mir eine Nachricht schicken können.«
    Der Schweigsame wirkte bestürzt. »War er Euer Freund?«
    Dulse schwieg eine Weile. »Er war mein Meister. Hätte mein Freund sein können, vielleicht, wenn ich auf Rok geblieben wäre. Haben Zauberer Freunde? Genauso wenig, wie sie Frauen oder Söhne haben, würden manche sagen... Einmal hat er zu mir gesagt, in unserem Beruf kann der sich glücklich schätzen, der jemanden findet, mit dem er reden kann. Erinnere dich daran. Wenn du Glück hast, wirst du eines Tages den Mund auf machen müssen.«
    Der Schweigsame beugte seinen struppigen, gedankenschweren Kopf.
    »Wenn er nicht eingerostet ist«, setzte Dulse hinzu.
    »Wenn Ihr es wünscht, werde ich sprechen«, sagte der junge Mann so ernst und so bereitwillig, auf Dulses Wunsch sein ganzes Wesen zu verleugnen, dass der Zauberer lachen musste.
    »Ich habe dich gebeten, es nicht zu tun«, sagte er, »und dabei habe ich nicht von meinem Bedürfnis gesprochen. Ich rede genug für zwei. Scher dich nicht drum. Wenn die Zeit reif ist, wirst du wissen, was du zu sagen hast. Das ist die ganze Kunst, hm? Zu wissen, was und wann man es sagen soll. Der Rest ist Schweigen.«
    Drei Jahre lang schlief der junge Mann auf einer Pritsche unter dem kleinen Westfenster. Er lernte die Zauberei, fütterte die Hühner, melkte die Kuh. Eines Tages schlug er vor, Dulse solle doch Ziegen halten. Eine Woche lang, eine kalte, feuchte Herbstwoche lang hatte er kein einziges Wort gesprochen. Und dann: »Ihr könntet ein paar Ziegen halten.«
    Dulse hatte sein Buch aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch liegen. Er hatte versucht, den Acasta-Zauber wiederzubeleben, der durch die Ereignisse von Fundaur vor Jahrhunderten sehr lückenhaft und machtlos geworden war. Er war soeben dem fehlenden Wort auf der Spur, das eine der Lücken füllen könnte, fast hatte er es erraten... »Ihr könntet ein paar Ziegen halten«, sagte der Schweigsame.
    Dulse hielt sich selbst für einen wortgewaltigen, ungeduldigen Mann mit einer Neigung zu jähen Wutausbrüchen. Das Verbot zu fluchen war in seiner Jugend eine schwere Bürde für ihn gewesen, und dreißig Jahre lang hatte die Dummheit seiner Lehrlinge, Kunden, Kühe und Hühner ihn auf eine harte Probe gestellt. Lehrlinge und Kunden fürchteten seine scharfe Zunge, Kühe und Hühner dagegen beachteten seine Ausbrüche nicht weiter. Nie zuvor war er auf den Schweigsamen böse gewesen.
    Langes Schweigen.
    »Wozu?«
    Offenbar bemerkte der Schweigsame weder das Schweigen noch die gefährliche Sanftmut in Dulses Stimme. »Milch, Käse, gebratenes Zicklein, Gesellschaft«, sagte er.
    »Hast du je Ziegen gehalten?«, fragte Dulse mit derselben sanften, höflichen Stimme.
    Der Schweigsame schüttelte den Kopf.
    In der Tat war er ein Stadtkind, in Gonthafen geboren. Er hatte nichts von sich erzählt, aber Dulse hatte sich ein wenig umgehört. Der Vater, ein Hafenarbeiter, war bei dem großen Erdbeben ums Leben gekommen, als der Schweigsame sieben oder acht war; die Mutter war Köchin in einem Gasthaus an der Küste. Mit zwölf hatte der Junge sich in Schwierigkeiten gebracht, vermutlich beim Herumprobieren mit Magie, und seine Mutter hatte ihn bei Eiassen als Lehrling untergebracht, einem angesehenen Zauberer in Valmund. Dort hatte der Junge seinen wahren Namen bekommen und einige Fertigkeiten im Tischlern und in der Landwirtschaft erworben, wenn nicht noch viel mehr. Und Eiassen hatte die Großzügigkeit besessen, ihm nach drei Jahren die Überfahrt nach Rok zu bezahlen. Das war alles, was Dulse über ihn wusste.
    »Ich mag Ziegenkäse nicht«, sagte Dulse.
    Der Schweigsame nickte zustimmend wie immer.
    Manches Mal erinnerte er sich in den folgenden Jahren, wie es ihm gelungen war, nicht die Geduld zu verlieren, als der Schweigsame ihm vorgeschlagen hatte, Ziegen zu halten; und jedes Mal schenkte ihm diese Erinnerung ein Gefühl stiller Befriedigung, wie der letzte Bissen einer vollendet reifen Birne.
    Nachdem er im Anschluss daran etliche Tage mit der Suche nach dem fehlenden Wort zugebracht hatte, setzte er dem Schweigsamen die Acasta-Zauber vor. Gemeinsam bekamen sie es schließlich heraus, nach langer Mühe. »Wie Pflügen mit einem blinden Ochsen«, sagte Dulse. Nicht lange danach gab er dem Schweigsamen

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