Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
war dunkel und voller Wurzelwerk vom Schilf; er schmatzte unter seinen Füßen. Leise ging er tiefer in das Wasser hinein und die kreisrunden Wellen, die seine Bewegung auslöste, waren flach und klein. Über eine lange Strecke war das Wasser flach. Dann fühlte sein vorsichtig tastender Fuß keinen Boden mehr und er blieb stehen.
    Das Wasser bebte. Zuerst spürte er es an den Schenkeln, ein Lecken wie das Kitzeln von Pelz; dann sah er es, das Beben der Oberfläche, über den ganzen Teich hinweg. Nicht die kleinen runden Wellen, die er verursacht hatte und die längst nicht mehr zu sehen waren, sondern ein Gekräusel, ein Aufwallen und ein Schaudern, wieder und wieder.
    »Wo?«, flüsterte er, und dann sagte er das Wort laut in der Sprache, die alle Dinge verstehen, die keine andere Sprache haben.
    Stille. Da sprang ein Fisch aus dem schwarzen, bebenden Wasser, ein weißgrauer Fisch, so lang wie eine Hand, und im Springen rief er mit seiner kleinen, hellen Stimme in derselben Sprache: »Javed!«
    Der alte Zauberer verharrte. Er ging alle Namen von Gont durch, die er kannte, und nach einer Weile stand ihm vor Augen, wo Javed war. Das war die Stelle, von wo die Hügelketten ausgingen, von Gonthafen aus landeinwärts, der Dreh-und Angelpunkt des Hochlands über der Stadt - die Stelle, wo die Erdspalte verlief. Ein Erdbeben, dessen Epizentrum sich dort befand, konnte die Stadt niederreißen, Lawinen und Springfluten auslösen und die Felsenklippen an der Bucht zusammenklatschen lassen wie Hände. Dulse zitterte und bebte am ganzen Leib, wie das Wasser im Teich.
    Er machte kehrt und ging ans Ufer zurück, hastig und ohne darauf zu achten, wohin er die Füße setzte, und gleichgültig, ob er durch sein Platschen und Keuchen die Stille ringsum störte. Durch das Schilf schlängelte er sich auf den Weg zurück, bis er wieder trockenen Boden und festes Gras unter den Füßen hatte und Mückengesumm und Grillenzirpen hörte. Da setzte er sich auf den Boden nieder, weil ihm die Beine zitterten.
    »Das wird nicht gehen«, sagte er zu sich selbst auf Hardisch. »Ich kann es nicht tim.« Dann sagte er: »Ich kann es nicht allein.«
    Er war so zerstreut, dass er sich, als er den Schweigsamen rufen wollte, nicht an die Eröffnungsformel des Zaubers erinnern konnte, den er seit sechzig Jahren kannte; dann, als er glaubte, er hätte es, begann er stattdessen eine Anrufung zu sprechen, und der Zauber wirkte, noch bevor er merkte, was er tat, und er hielt inne und machte ihn Wort für Wort rückgängig.
    Er riss etwas Gras aus, um den feucht-klebrigen Morast von seinen Füßen und Beinen abzureiben. Er war noch nicht trocken und verschmierte nur die Flaut. »Ich hasse Schlamm«, flüsterte er. Dann klappte er die Kinnladen zusammen und gab es auf, seine Füße säubern zu wollen. »Erde, Erde«, sagte er und strich dabei liebevoll über den Boden, auf dem er saß. Dann begann er sehr langsam und bedächtig den Anrufungszauber zu sprechen.
    Auf einer belebten Straße, die hinunter zu den belebten Kais von Gonthafen führte, blieb der Magier Ogion mit einem Ruck stehen. Der Schiffskapitän an seiner Seite ging noch ein paar Schritte weiter, wandte sich dann um und sah Ogion mit der Luft reden.
    »Aber ich werde kommen, Meister!«, sagte er. Und dann, nach einer Pause: »Wie bald?« Nach einer längeren Pause sagte er etwas in einer Sprache, die der Schiffskapitän nicht verstand, und machte eine Geste, welche die Luft um ihn herum kurz verdunkelte.
    »Kapitän«, sagte er, »es tut mir Leid, wir müssen mit dem Besprechen der Segel warten. Es droht ein Erdbeben. Ich muss die Stadt warnen. Sagen Sie denen dort unten, dass jedes Schiff, das seetüchtig ist, auf die offene
    See hinausfahren soll. Geradewegs durch die Klippen hindurch. Viel Glück für Sie!« Und er machte kehrt und lief zurück auf die Straße, ein großer, kräftiger Mann mit struppigem, ergrauendem Haar, der jetzt behände sprang wie ein Hirsch.
     
    Die Stadt Gonthafen liegt am inneren Ende einer tiefen, schmalen Bucht zwischen steilen Uferhängen. Die Hafeneinfahrt befindet sich zwischen zwei langen Landspitzen, den Felsenklippen, die das Tor zum Hafen bilden und nicht mehr als hundert Fuß voneinander entfernt sind. In Gonthafen ist man vor Seeräubern geschützt. Doch in dieser Sicherheit liegt eine Gefahr; die tiefe Bucht folgt in ihrem Verlauf einer Erdspalte, und die Kinnladen, die sich da geöffnet haben, könnten zuschnappen.
    Als er getan hatte, was er konnte, um

Weitere Kostenlose Bücher