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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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sagte Dulse und ging davon.
    Beim Gehen dachte er nach; dachte angestrengt nach; erinnerte sich. Er rief sich all die Dinge ins Gedächtnis, von denen sein Lehrmeister gesprochen hatte, ein Mal nur und vor langer Zeit. Merkwürdige Dinge, so merkwürdig, dass er nie gewusst hatte, ob sie echte Magie waren oder bloße Hexerei, wie man in Rok sagte; Dinge, von denen er in Rok sicher nie gehört noch darüber gesprochen hatte, vielleicht aus Angst, die Lehrer könnten ihn verachten, weil er solche Dinge ernst nahm, vielleicht weil er wusste, dass sie sie nicht verstehen würden, weil es gontische Dinge waren, Wahrheiten aus Gont. Selbst Ards Lehrbuch, das von dem großen Magier Ennas aus Gont stammte, sagte nichts darüber. Alles war mündlich überliefert. Es waren heimische Angelegenheiten.
    »Geh zum Dunklen Teich oben auf Semeres Alm«, hatte sein Lehrmeister zu ihm gesagt. »Dort kannst du das Gebirge lesen. Du musst die Mitte finden. Schau, wo du hineingehst.«
    »Hineingehen?«, hatte Dulse geflüstert.
    »Was könntest du von außen tun?«
    Dulse war eine Weile lang still gewesen, dann hatte er gefragt: »Wie?«
    »So.« Ard hatte die langen, mageren Arme vor und nach oben gestreckt in einer Anrufung, die ein großer Verwandlungszauber war, wie Dulse später erfahren sollte. Ard hatte die Worte verkehrt herum gesagt, wie Zauberlehrer das tun müssen, weil der Zauber sonst wirksam wird. Dulse kannte den Trick, sie richtig herum zu hören und auswendig zu lernen. Zum Schluss hatte er den Spruch still bei sich wiederholt und die seltsamen, schwierigen Gesten nachgeahmt, die dazugehörten. Plötzlich hatte seine Hand innegehalten.
    »Aber das lässt sich nicht wieder lösen!«, hatte er laut gesagt.
    Ard hatte genickt. »Es ist unwiderruflich.«
    Dulse kannte keine Verwandlung, die unwiderruflich war, keinen Bann, der nicht gelöst werden konnte, außer den Worten des Entbindens, die nur einmal gesprochen wurden.
    »Aber warum?«
    »Wenn es Not tut«, hatte Ard gesagt.
    Dulse war so klug gewesen, keine Fragen zu stellen. Die Notwendigkeit, einen solchen Zauber zu wirken, konnte es nicht oft geben; seine Chance, ihn überhaupt je anwenden zu können, war eher gering. Er hatte den schrecklichen Zauber in seinen Geist sinken und sich verbergen lassen unter tausend nützlichen oder wunderschönen oder erhellenden Zaubertricks und Magien, der ganzen Lehre und dem Regelwerk aus Rok, all der Weisheit aus den Büchern, die Ard ihm vermacht hatte. Roh, ungeheuerlich, unnütz hatte er im Dunkel seines Geistes gelegen, sechzig Jahre lang, wie der Eckstein eines älteren, vergessenen Hauses im Keller eines herrschaftlichen Hauses voller Licht, Reichtum und Kinder.
    Der Regen hatte aufgehört, wenngleich noch immer Nebel die Gipfel einhüllte und Wolkenfetzen durch den
    Hochwald zogen. Dulse war kein unermüdlicher Wanderer wie der Schweigsame, der sein Leben in den Wäldern der Berge von Gont zugebracht hätte, wenn er gekonnt hätte; doch er war in Re Albi geboren und kannte die Straßen und Wege ringsum, als wären sie ein Stück von ihm. Bei Rissis Brunnen nahm er die Abkürzung und gelangte noch vor Mittag auf Semeres Alm, eine hoch gelegene Matte am Berghang. Eine Meile darunter lag, nun ganz glänzend im Sonnenschein, ein Gehöft im Schutz eines Hügels, über den eine Schafherde hinwegzog wie ein Wolkenschatten. Gonthafen und die Bucht waren hinter den steilen, schroffen Hügeln verborgen, die über der Stadt aufragten.
    Dulse ging ein wenig umher, bevor er fand, was er für den Dunklen Teich hielt. Er war klein, schlammig und verschilft, mit einem angedeuteten, sumpfigen Weg zum Wasser und keiner Spur darauf, außer von Ziegenhufen. Das Wasser war dunkel, obwohl es unter dem strahlenden Himmel und weit oberhalb des Torfgrunds lag. Dulse folgte der Ziegenspur und schimpfte, als er im Schlamm ausglitt und sich in dem Bemühen, nicht hinzufallen, die Hüfte verrenkte. Am Rand des Wassers stand er still. Er beugte sich vor, um sich die Hüfte zu reiben. Er lauschte.
    Es war völlig still.
    Kein Wind. Kein Vogelruf. Kein Muhen oder Blöken in der Ferne, kein Ruf. Als ob die ganze Insel verstummt wäre. Nicht einmal das Summen einer Fliege.
    Er schaute auf das dunkle Wasser. Nichts spiegelte sich darin.
    Widerstrebend ging er weiter, mit nackten Füßen und Beinen; seinen Umhang hatte er vor einer Stunde, als die Sonne herausgekommen war, zusammengerollt und in seinen Sack gesteckt. Schilf strich ihm um die Beine. Der Schlamm

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