Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
die Stadt zu warnen, und als er sah, dass sämtliche Torwachen und sämtliche Hafenwachen taten, was ihnen möglich war, um zu verhindern, dass Menschen in Panik die paar Straßen verstopften und zur Hölle machten, schloss Ogion sich in einem Raum im Signalturm ein und verriegelte die Tür, denn jeder wollte etwas von ihm, und zwar sofort, und schickte einen Geistboten zum Dunklen Teich auf Semeres Alm oben in den Bergen.
    Sein alter Meister saß im Gras unweit vom Teich und aß einen Apfel. Eierschalen lagen verstreut am Boden rings um seine Beine, auf denen der Schlamm rissig trocknete. Als er aufsah und Ogions Geistboten erblickte, lächelte er ein breites, zärtliches Lächeln, aber er sah alt aus. Noch nie hatte er so alt ausgesehen. Ogion hatte ihn seit über einem Jahr nicht gesehen, da er sehr beschäftigt war; er war immerzu beschäftigt in Gonthafen, regelte die Angelegenheiten der feinen Herren und einfachen Leute, nie Zeit, durch einen Bergwald zu gehen oder Heleth zu besuchen und in seinem kleinen
    Haus in Re Albi still bei ihm zu sitzen und zu schweigen. Heleth war ein alter Mann, fast achtzig nun, und er hatte Angst. Er lächelte erfreut, Ogion zu sehen, doch er hatte Angst.
    »Ich glaube, was wir zu tun haben«, sagte er ohne Umschweife, »ist zu verhindern, dass sich die Erdspalte zu sehr verschiebt, du an den Toren zum Hafen und ich am inneren Ende im Berg. Zusammenwirken, weißt du. Wir könnten es schaffen. Ich kann fühlen, wie es sich aufbaut, du auch?«
    Ogion schüttelte den Kopf. Er ließ seinen Geistboten neben Heleth im Gras niedersitzen, obwohl sich unter ihm, wo er ging und oder saß, kein Grashalm beugte. »Ich habe nichts weiter getan, als die Stadt in Panik zu versetzen«, sagte er. »Und die Schiffe aus der Bucht hinauszuschicken. Was ist es, was Ihr fühlt? Und wie fühlt Ihr es?«
    Das waren technische Fragen, von Magier zu Magier. Heleth zögerte, bevor er antwortete.
    »Ich habe bei Ard gelernt«, sagte er und machte wieder eine Pause. Er hatte Ogion nie etwas über seinen ersten Lehrmeister erzählt, einen Magier ohne Ruf, sogar auf Gont, ja, vielleicht sogar von schlechtem Ruf. Es gab da irgendein Geheimnis oder gar eine Schande in Verbindung mit Ard. Obwohl er gesprächig war für einen Zauberer, war Heleth in gewissen Dingen verschwiegen wie ein Stein. Ogion, der Schweigen achtete, hatte ihn nie nach seinem Lehrer gefragt.
    »Das ist keine Rok-Magie«, sagte der alte Mann. Seine Stimme war heiser, leicht angestrengt. »Aber nichts gegen das Gleichgewicht, kein schmieriges Zeug.« Das war immer sein Ausdruck gewesen für schlechtes Tun, Zauber für Geld, Flüche, schwarze Magie: >schmieriges Zeug<. Er suchte nach Worten und nach einer Weile fuhr er fort: »Erde. Felsen. Es ist ein Erdzauber. Alt. Sehr alt. So alt wie die Insel Gont.«
    »Die Urmächte«, murmelte Ogion.
    Heleth nickte.
    »Wird er die Erde selbst in den Griff bekommen?«
    »Mehr eine Frage, wie man hineinfindet, denke ich.« Heleth bedeckte das Kerngehäuse seines Apfels und die größeren Stücke Eierschale mit losem Erdreich und klopfte alles sorgfältig fest. »Natürlich kenne ich die Worte, aber ich werde lernen müssen, was zu tun ist, während ich es tue. Das ist das Schwierige bei großer Magie, nicht wahr? Man lernt, was man tut, während man es tut. Keine Gelegenheit zu üben. Ah... da! Fühlst du es?«
    Ogion schüttelte den Kopf.
    »Anstrengend«, sagte Heleth, die Augen nach innen gewandt, die Hand immer noch selbstvergessen, liebevoll das Erdreich tätschelnd, wie man eine verschreckte Kuh tätscheln würde. »Ziemlich bald jetzt, denke ich. Kannst du das Tor offen halten, mein Lieber?«
    »Sagt mir, was Ihr zu tun gedenkt...«
    Doch Heleth schüttelte den Kopf. »Nein, keine Zeit. Nichts für dich.« Er war zunehmend abgelenkt von dem, was er in der Erde oder in der Luft spürte, und durch ihn fühlte Ogion die sich aufbauende, unerträgliche Spannung. Doch nach einer Weile entspannte Heleth sich ein wenig und lächelte sogar. »Sehr altes Zeug«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte mehr darüber nachgedacht. Es an dich weitergegeben. Aber es war irgendwie plump. Schwerfällig... Sie hat mir nicht gesagt, wo sie es gelernt hat. Hier natürlich. Es gibt schließlich verschiedene Arten des Wissens.«
    »Sie?«
    »Ard, mein Lehrmeister.« Heleth sah auf, das Gesicht undurchdringlich, der Ausdruck möglicherweise schlau. »Wusstest du das nicht? Nein, ich nehme an, ich habe es nie erwähnt. Aber es

Weitere Kostenlose Bücher