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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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macht letztlich keinen großen Unterschied. Wo wir doch alle ohne Geschlecht sind, wir
    Magier, nicht wahr? Worauf es ankommt, ist das Haus, in dem wir leben. Es sieht so aus, als hätten wir womöglich eine Menge Wissenswertes ausgelassen. Diese Art von Dingen... Da! Da wieder...«
    Seine plötzliche Anspannung und Reglosigkeit, sein verkrampftes Gesicht und der nach innen gerichtete Blick erinnerten an eine Frau in den Wehen, wenn ihr Schoß sich zusammenzieht. Das war Ogions Gedanke, auch als er fragte: »Was meintet Ihr mit >im Berg    Der Krampf ging vorüber; Heleth antwortete: »Im Berg. Dort bei Javed.« Er deutete auf die schroffen Hügel unter ihnen. »Ich werde hineingehen. Versuch du zu verhindern, dass die Dinge ins Rutschen kommen, ja? Beim Tun werde ich herausfinden, wie, ganz bestimmt. Ich glaube, du solltest zu dir selbst zurückkehren. Es wird eng.« Wieder hielt er inne und sah aus, als fühlte er heftigen Schmerz, krümmte und wand sich. Das Aufstehen fiel ihm schwer. Gedankenlos hielt Ogion ihm die Hand hin, um ihm zu helfen.
    »Zwecklos«, sagte der alte Zauberer mit einem Grinsen, »du bist nur Wind und Sonnenlicht. Ich gehe jetzt und werde zu Erde und Stein. Du machst am besten weiter. Lebe wohl, Aihal. Halt den Mund... halt den Mund offen, dies eine Mal, ja?«
    Gehorsam kehrte Ogion zurück zu sich selbst in dem stickigen, tapezierten Raum im Hafen von Gont. Er verstand den Witz des alten Mannes nicht, bis er sich zum Fenster umwandte und die Felsenklippen am äußeren Rand der langen Bucht sah: Kiefer, bereit zuzuschnappen. »Ich werde es tun«, sagte er und machte sich ans Werk.
     
    »Was ich zu tun habe«, sagte der alte Zauberer immer noch zu dem Schweigsamen, weil es tröstlich war, mit ihm zu reden, auch wenn er nicht mehr da war, »ist, in den Berg hineinzukommen, direkt hinein; aber nicht auf die Weise, wie ein Zauberer-Anwärter das macht; nicht so zwischen den Dingen durchschlüpfen und schauen und schmecken. Tiefer. Ganz tief hinein. Nicht in die Adern, in die Knochen. So!« Allein auf der Almwiese im Mittagslicht breitete Heleth die Arme weit aus zur Geste der Anrufung, die jeden größeren Zauber eröffnet; und er sagte den Spruch.
    Nichts geschah, als er die Worte gesprochen hatte, die Ard ihn gelehrt hatte, seine alte Hexenmeisterin mit dem bitteren Mund und den langen, mageren Armen, die Worte damals verkehrt herum gesprochen, heute richtig herum. Nichts geschah, und er hatte Zeit, Meerwind und Sonnenschein zu betrachten und an dem Zauber zu zweifeln und an sich selbst zu zweifeln, bevor die Erde sich rings um ihn auftat, trocken, warm und dunkel.
    Dort drinnen wusste er, dass er schnell machen musste, dass die Gebeine der Erde schmerzvoll danach drängten, sich zu bewegen, und dass er sie dazu bringen musste, sich meistern zu lassen, aber er konnte nicht schnell machen. Um ihn lag die Verwirrung, die mit jeder Verwandlung einhergeht. In seinem Leben war er Fuchs gewesen, Stier und Libelle, und er wusste, was es bedeutete, seine Gestalt zu verwandeln. Aber das hier war anders, diese langsame Verbreiterung. Ich werde weiter, dachte er.
    Er streckte die Hand aus nach Javed, nach dem Schmerz und dem Leiden. Als er näher hinkam, fühlte er von Westen her große Kraft in sich einströmen, als ob der Schweigsame schließlich doch seine Hand ergriffen hätte. Durch diese Verbindung konnte er seine eigene Kraft schicken, die Kraft der Berge, zum Helfen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich nicht wiederkommen werde, dachte er, seine letzten Worte auf Hardisch, seine letzte Sorge, denn nun war er in den Gebeinen der Berge. Er kannte die Feueradem und den Pulsschlag des großen Herzens. Er wusste, was zu tun war. Es war keine menschliche Sprache, in der er sagte: »Sei ruhig, sei locker. Da jetzt, da. Halt fest. So, da. Wir können locker sein.« Und er war locker, er war ruhig, er hielt fest, Fels im Felsen und Erde in Erde im feurigen Dunkel des Berges.
    Es war ihr Magier Ogion, den die Leute allein auf dem Dach des Signalturms auf dem Kai stehen sahen, als die Straßen sich wellten, das Kopfsteinpflaster aufsprang, Mauern aus Lehmziegeln zu Staub zerfielen und die Felsenklippen sich ächzend aufeinander zuneigten. Es war Ogion, den sie sahen, wie er sie, die Hände vor sich ausgestreckt, auseinander schob; aufrecht, angespannt, reglos stand er da. Die Stadt bebte und er stand still. Es war Ogion, der das Erdbeben aufhielt.
    »Mein Lehrmeister ist bei mir gewesen und sein

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