Das Vermächtnis von Erdsee
Herd, und nahm ihre Näharbeit wieder auf. »Wärmt Euch richtig durch und dann zeige ich Euch Euer Bett«, sagte sie. »In dem Raum gibt es kein Feuer. Hattet Ihr schlechtes Wetter oben im Gebirge? Es heißt, es hat schon geschneit.«
»Ein paar Flocken«, berichtete er. Im Schein der Lampe und der Feuersglut konnte sie ihn jetzt gut sehen. Er war um die vierzig, mager, nicht so groß, wie sie anfangs gedacht hatte. Sein Gesicht war fein, aber irgendetwas stimmte daran nicht, war verkehrt. Er sieht zerstört aus, dachte sie, ein zerstörter Mensch.
»Warum seid Ihr ins Moor gekommen?«, fragte sie. Sie hatte ein Recht zu fragen, denn sie hatte ihn bei sich aufgenommen, und doch fühlte sie sich unwohl, als sie derart in ihn drang.
»Ich habe gehört, unter dem Vieh hier gibt es eine Seuche.« Jetzt, da er nicht mehr ganz so steif war vor Kälte, hatte seine Stimme einen sehr schönen Klang. Er sprach wie die Geschichtenerzähler, wenn sie in die Rolle des Helden oder des Drachenfürsten schlüpfen. Vielleicht war er ein Geschichtenerzähler oder ein Sänger? Aber nein, er hatte von der Viehseuche gesprochen.
»Ja.«
»Ich könnte den Tieren helfen.«
»Seid Ihr ein Heiler?«
Er nickte.
»Dann werdet Ihr mehr als willkommen sein. Die Seuche wütet schrecklich unter dem Vieh.«
Er schwieg. Sie konnte sehen, wie die Wärme in ihn strömte und er gelöster wurde.
»Haltet Eure Füße doch näher ans Feuer«, sagte sie plötzlich. »Ich habe ein Paar alte Schuhe von meinem Mann.« Es kostete sie einige Überwindung, das zu sagen, doch als sie es herausgebracht hatte, fühlte sie sich erleichtert, gelöster. Wozu sollte sie Brens Schuhe denn noch aufheben? Berry waren sie zu klein und ihr selbst zu groß. Seine Kleider hatte sie weggegeben, die Schuhe aber aufgehoben, sie wusste nicht, warum. Für diesen Kerl, mochte es scheinen. Die Dinge fügen sich, wenn man nur abwarten kann, dachte sie. »Ich suche sie Euch heraus«, meinte sie. »Eure sind kaputt.«
Er sah sie an. Seine schwarzen Augen waren groß, tief, dunkel wie Pferdeaugen, unergründlich.
»Er ist tot«, erklärte sie, »seit zwei Jahren. Das Sumpffieber. Davor müsst Ihr Euch in Acht nehmen hier. Das Wasser. Ich lebe mit meinem Bruder zusammen. Er ist im Dorf, im Wirtshaus. Wir haben die Molkerei. Ich mache Käse. Unsere Herde ist gesund.« Sie machte das Zeichen, um Unheil abzuwenden. »Ich halte sie immer dicht beim Haus. Draußen auf den Weiden ist die Seuche sehr schlimm. Vielleicht setzt ihr ja die Kälte ein Ende.«
»Wahrscheinlicher, dass sie die kranken Tiere umbringt«, entgegnete der Mann. Er klang etwas schläfrig.
»Ich heiße Gabe«, sagte sie, »und mein Bruder Berry.«
»Gully«, nannte er sich selbst nach einer Pause, und sie dachte sich, dass er diesen Namen erfunden hatte. Er passte nicht zu ihm. Nichts an ihm passte zusammen und bildete ein einheitliches Ganzes. Und doch empfand sie kein Misstrauen ihm gegenüber. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Er meinte es nicht böse mit ihr. Sie dachte, da sei Freundlichkeit in ihm, in der Art, wie er von den Tieren sprach. Er würde die rechte Hand haben mit ihnen. Er war selbst wie ein Tier, ein stilles, verletztes Tier, das Schutz brauchte, aber nicht darum zu bitten vermochte.
»Kommt«, sagte sie, »bevor Ihr hier einschlaft«, und gehorsam folgte er ihr in Berrys Zimmer, das nicht viel mehr war als ein hinter der Hausecke angebauter Verschlag. Der Raum lag hinter dem Kamin. Bald würde Berry betrunken heimkommen und sie würde seinen Strohsack in die Kaminecke schieben. Der Wanderer sollte wenigstens für eine Nacht ein ordentliches Bett haben. Vielleicht würde er ja einen Kupfergroschen dalassen oder zwei, wenn er weiterzog. Es herrschte ein schrecklicher Mangel an Kupfergroschen in ihrem Haushalt in diesen Tagen.
Wie immer erwachte er in seinem Zimmer im Großhaus. Er verstand nicht, warum die Decke so niedrig war und die Luft frisch, aber säuerlich roch und warum draußen Rinder blökten. Er musste still liegen bleiben und an diesem anderen Ort bei diesem anderen Mann ankommen, an dessen Rufnamen er sich nicht erinnern konnte, obwohl er ihn gestern Abend einer Färse oder einer Frau genannt hatte. Er kannte seinen wahren Namen, aber der taugte hier nichts, wo immer dieses Hier war, oder überall. Da waren schwarze Wege gewesen und abschüssige Hänge, und unter ihm hatte sich ein weites, grünes Land erstreckt, von Flüssen durchzogen und schimmernd vor Wasser. Ein
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