Das Vermächtnis von Erdsee
Lehrmeister bei ihm«, sagte Ogion, als sie ihn priesen. »Ich konnte das Tor zum Hafen offen halten, weil er den Berg still gehalten hat.« Sie lobten seine Bescheidenheit und hörten nicht auf ihn. Zuhören können ist eine seltene Gabe und die Menschen brauchen ihre Helden.
Als wieder Ordnung in der Stadt eingekehrt war, die Schiffe alle zurückgekommen und die Mauern wieder aufgebaut waren, floh Ogion vor dem Lob und ging in die Hügel oberhalb von Gonthafen. Er fand das merkwürdige kleine Tal, Trimmers Mulde genannt, dessen wahrer Name in der Magiersprache Javed war, so wie Ogions wahrer Name Aihal war. Er streifte dort einen Tag lang umher, als ob er etwas suchte. Abends legte er sich auf den Boden und sprach zu ihm. »Das hättet Ihr mir sagen sollen. Ich hätte mich verabschieden können«, sagte er. Er weinte still, und seine Tränen fielen zwischen Grashalmen auf die Erde, nässten sie und machten kleine schmierige Flecken. Er schlief dort auf dem Boden. Bei Sonnenaufgang stand er auf und ging über den oberen Weg nach Re Albi. Er ging nicht in den Ort hinein, sondern daran vorbei bis zu dem Haus mit zwei Zimmern, das nach Norden zu am Rand des Oberfell allein stand. Die Haustür war offen.
Die letzten Bohnen waren pelzig geworden auf ihren Stauden; der Kohl war prächtig. Drei Hühner kamen gackernd und pickend über den staubigen Hof, ein rotes, ein braunes und ein weißes; eine graue Henne saß im Hühnerhaus und brütete. Es waren keine Küken zu sehen und keine Spur vom Hahn, dem König, wie He-leth ihn genannt hatte. Der König ist tot, dachte Ogion. Vielleicht schlüpft ja bald ein Küken, das seinen Platz einnehmen wird. Vom Obstgarten hinter dem Haus glaubte er flüchtig einen Hauch vom Fuchs zu riechen.
Er kehrte Staub und Blätter hinaus, die durch die offene Tür auf den Holzboden geflogen waren, und stellte Heleths Matratze und seine Decke zum Lüften in die Sonne. »Ich werde ein Weilchen hier bleiben«, dachte er. »Das ist ein guter Platz.« Nach einer Weile überlegte er: »Ich könnte ein paar Ziegen halten.«
Im Hochmoor
Die Insel Semel liegt von Havnor aus nordwestlich, jenseits des Pelnischen Meeres im Südwesten der Enladen. Obwohl sie zu den großen Inseln im Archipel der Erdsee gehört, gibt es nur wenige Geschichten über Semel. Enlad hat seine ruhmreiche Vergangenheit, Havnor seinen Reichtum und Paln seinen schlechten Ruf, Semel aber hat nur Rinder und Schafe, Wälder und kleine Städte und den großen Vulkan mit Namen Andanden, der sich still und schweigsam über allem erhebt.
Südlich des Andanden erstreckt sich ein Landstrich, auf den eine hundert Fuß dicke Ascheschicht herabregnete, als der Vulkan zum letzten Mal sprach. Wasserläufe bahnten sich in Mäandern ihren Weg durch die Hochebene nach Süden zum Meer, unzählige andere verbreiterten sich zu Tümpeln und machten die Gegend zum Moor; ein großes, ödes Sumpfland mit vereinzelten Bäumen, einem fernen Horizont und wenigen Menschen. Auf dem Lavaboden gedeiht fettes, glänzendes Gras, und die Menschen dort halten Vieh, züchten Rinder für die dicht bevölkerte Südküste; sie lassen die Tiere meilenweit über die Ebene verstreut grasen, wobei die Wasserläufe als natürliche Einzäunung dienen.
Wie andere Berge auch, bestimmt der Andanden das Wetter. Er sammelt die Wolken um sich. Der Sommer ist kurz, der Winter lang oben im Hochmoor.
In der frühen Dunkelheit eines Wintertags stand ein Wanderer an der windgepeitschten Kreuzung zweier Pfade, von denen keiner besonders viel versprechend aussah - es waren bloß Spuren von Vieh , die durch das Schilf führten und hielt Ausschau nach einem Zeichen, welchen Weg er einschlagen sollte.
Als er die letzten Berghänge heruntergekommen war, hatte er hier und da im Moor verstreut Häuser gesehen, nicht weit entfernt ein Dorf. Er hatte gedacht, er befinde sich auf dem Weg ins Dorf, doch irgendwo musste er sich verlaufen haben. Das Schilf zu beiden Seiten des Weges war hoch, sodass er, wenn irgendwo Licht gebrannt hätte, es nicht gesehen hätte. Zu seinen Füßen gluckste leise das Wasser. Auf seinem Weg um den Andanden herum, auf den schlechten Pfaden aus schwarzer Lava, hatte er seine Schuhe völlig ruiniert. Die Sohlen waren durchgelaufen und von der eisigen Feuchtigkeit der Moorwege taten ihm die Füße weh.
Es wurde schnell dunkel. Nebel zog von Süden auf und bedeckte den Himmel. Nur über der gewaltigen, trüben Masse des Berges funkelten die Sterne klar und
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