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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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deutlich. Der Wind pfiff durchs Schilf, leise und klagend.
    Der Wanderer stand an der Kreuzung und erwiderte den Pfiff des Schilfs.
    Etwas bewegte sich auf einem der Pfade, etwas Großes, Dunkles in der Dunkelheit.
    »Bist du da, meine Liebe?«, fragte der Wanderer. Er sprach in der Ursprache, der Sprache des Erschaffens. »Komm her, Ulla«, sagte er, und auf ihren Namen hin tat die Färse einen Schritt auf ihn zu, während er ihr entgegenging. Den großen Kopf konnte er mehr ertasten als sehen, er streichelte den silbrigen Fleck zwischen den Augen, kraulte ihre Stirn mit den Hornansätzen. »Schön, du bist schön«, sagte er zu ihr und sog den grasigen Duft ihres Atems ein, lehnte sich gegen ihre breite Wärme. »Willst du mich führen, liebe Ulla? Willst du mich dorthin führen, wohin ich gehen muss?«
    Er hatte Glück, dass er auf eine Milchkuh gestoßen war, nicht auf eines der wiederkäuenden Rinder, das ihn nur noch tiefer in den Sumpf hineingeführt hätte. Seine Ulla liebte es, über Zäune hinwegzusetzen, doch als sie eine Weile umhergestreift war, dachte sie gern an ihren Kuhstall und die Mutter, von der sie immer noch hin und wieder einen Schluck Milch nahm; und jetzt führte sie den Wanderer bereitwillig nach Hause. Langsam, aber entschlossen ging sie einen der Wege hinunter, und er ging mit ihr, eine Hand an ihrer Hüfte, wenn der Weg breit genug war. Als sie einen knietiefen Bach durchwatete, hielt er sich an ihrem Schwanz fest. Sie kletterte die niedrige, schlammige Böschung hinauf und schlug mit dem Schwanz, um sich zu befreien, und doch wartete sie auf ihn, bis er mühsam hinter ihr hergeklettert war. Dann trottete sie freundlich weiter. Er drückte sich fest an ihre Flanke und umklammerte sie, weil er im Fluss bis auf die Knochen durchnässt worden war und vor Kälte zitterte.
    »Muh«, machte seine Führerin leise und er sah das gelbe, schwach erleuchtete Viereck gleich zu seiner Linken.
    »Danke dir«, sagte er und öffnete das Gatter für die Färse, die zu ihrer Mutter lief, während er über den dunklen Hof auf die Haustür zustolperte.
     
    Das würde Berry sein an der Tür, aber sie verstand nicht, warum er anklopfte. »Komm doch herein, du Idiot«, rief sie. Es klopfte noch einmal und sie legte ihre Näharbeit beiseite und ging zur Tür. »Ist es denn die Möglichkeit, dass du jetzt schon betrunken bist?«, fragte sie und dann sah sie ihn.
    Zuerst dachte sie an einen König, einen Herrn, Maharion aus den Gesängen, groß und gerade gewachsen, schön. Dann dachte sie an einen Bettler, einen Verlorenen in schmutzigen Kleidern, der sich bibbernd vor Kälte mit den Armen umfangen hielt.
    Er sagte: »Ich habe mich verlaufen. Wie komme ich ins Dorf?« Er klang heiser und rau, die Stimme eines Bettlers, doch nicht der Tonfall eines Bettlers.
    »Das ist noch eine halbe Meile weiter«, meinte Gabe.
    »Gibt es dort ein Gasthaus?«
    »Erst in Oraby, zehn, zwölf Meilen nach Süden.« Sie überlegte nur kurz. »Wenn Ihr ein Zimmer für eine Nacht braucht, ich habe eins. Oder San... er könnte vielleicht auch eins haben, wenn Ihr ins Dorf gehen wollt.«
    »Ich bleibe hier, wenn ich darf«, sagte er in dieser vornehmen Art, wie ein Prinz, wobei er mit den Zähnen klapperte und sich an den Türpfosten lehnen musste, um sich auf den Beinen halten zu können.
    »Zieht Eure Schuhe aus«, forderte sie ihn auf, »sie sind ja völlig durchnässt. Kommt herein.« Sie trat beiseite und sagte: »Kommt ans Feuer« und ließ ihn sich auf Brens Bank dicht beim Herd niedersetzen. »Schürt nur das Feuer. Möchtet Ihr etwas Suppe? Sie ist noch heiß.«
    »Danke, Mistress«, brummte er und kauerte sich ans Feuer. Sie brachte ihm eine Schüssel mit Brühe. Er trank gierig und doch vorsichtig davon, so als hätte er schon lange keine heiße Suppe mehr genossen.
    »Seid Ihr übers Gebirge gekommen?«
    Er nickte.
    »Wozu?«
    »Um hierher zu gelangen«, sagte er. Sein Zittern ließ etwas nach. Seine nackten Füße boten einen jämmerlichen Anblick, voller Frostbeulen, geschwollen und aufgeweicht. Sie wollte ihm schon sagen, er solle sie in die Nähe des Feuers halten, doch sie wollte nicht aufdringlich sein. Was auch immer er war, er war kein Bettler aus freiem Entschluss.
    »Es kommen nicht viele hierher ins Hochmoor«, meinte sie. »Krämer und Hausierer und so. Aber nicht im Winter.«
    Er aß seine Suppe auf und sie nahm ihm die Schüssel ab. Dann setzte sie sich auf ihren Platz, den Stuhl bei der Öllampe rechts vom

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