Das Vermächtnis von Erdsee
während er zum Mann heranwuchs. Das ist ein starker Geist auf Rok. Es immer besser machen als die anderen, immer der Erste sein... Die Kunst wird zum Wettkampf, zum Spiel. Der Zweck wird zum Mittel für einen geringeren Zweck als er selbst... Keiner war höher begabt als dieser junge Mann, doch wann immer jemand etwas besser machte als er, konnte er das nur schwer ertragen. Es erschreckte ihn, es ärgerte ihn maßlos.
Unter die Meister konnte er nicht aufgenommen werden, da eben erst ein neuer Meister des Gebietens gewählt worden war, ein kräftiger Mann in der Blüte seiner Jahre, von dem nicht zu erwarten war, dass er sich zurückziehen oder sterben würde. Unter den Schülern und den anderen Lehrern hatte er eine Vorzugsstellung inne, aber er war keiner von den Neun. Man hatte ihn übergangen. Vielleicht war es nicht gut für ihn, dass er dort blieb, immer unter Zauberern und Magiern, unter Jungen, die Zauberei lernten, alle versessen auf Macht und immer mehr Macht und bestrebt, der Allermächtigste zu sein. Im Lauf der Jahre wurde er jedenfalls immer unnahbarer; abseits von allen anderen widmete er sich in seinem Turmzimmer seinen Studien, unterrichtete nur wenige Schüler und sprach nur selten. Der Meister des Gebietens schickte begabte Schüler zu ihm, aber die meisten Schüler wussten kaum etwas von ihm. In seiner Abgeschiedenheit fing er an, gewisse Künste auszuüben, von denen man besser die Finger lässt und die zu nichts Gutem führen.
Ein Gebieter gewöhnt sich an gehorsame Geister und Schatten, die nach seinem Willen kommen und auf sein Wort hin gehen. Vielleicht dachte dieser Mann bei sich: Wer verbietet mir, mit den Lebenden dasselbe zu tun? Wozu habe ich die Kraft, wenn ich sie nicht nutzen kann? So fing er an, die Lebenden zu sich zu rufen, diejenigen in Rok, die er fürchtete, weil er sie für Rivalen hielt, diejenigen, auf deren Macht er eifersüchtig war. Wenn sie zu ihm kamen, nahm er ihnen ihre Macht und eignete sich diese an und sie blieben stumm. Sie konnten nicht sagen, was mit ihrer Macht geschehen war. Sie wussten es nicht.
So beschwor er zuletzt seinen eigenen Meister, den Meister des Gebietens von Rok, in einem unbewachten Augenblick.
Doch der Meister bekämpfte ihn im Körper wie im Geist, und er rief mich und ich kam ihm zu Hilfe. Gemeinsam kämpften wir gegen den Willen, der uns zu zerstören trachtete.«
Es war Nacht geworden. Gabes Lampe war flackernd erloschen. Nur der rote Feuerschein erhellte Falkes Gesicht. Das war nicht das Gesicht, das sie im Kopf hatte. Es war ausgezehrt und hart und auf einer Seite ganz vernarbt. Das Gesicht eines Falken, dachte sie. Sie saß still und lauschte weiter.
»Das ist nicht die Geschichte eines Geschichtenerzählers. Diese Geschichte kann niemand anderer Euch erzählen.
Ich war damals neu im Amt des Erzmagiers. Und jünger als der Mann, den wir bekämpften, und vielleicht fürchtete ich mich zu wenig vor ihm. Alles, was wir beide gemeinsam gegen ihn unternehmen konnten, war, uns ihm entgegenzusetzen, dort in der Stille des Turmzimmers. Niemand sonst wusste, was vor sich ging. Wir kämpften, lange Zeit kämpften wir. Und dann war es vorbei. Er brach zusammen. Wie ein Stock zerbricht. Er war gebrochen. Aber er floh. Der Meister des Gebietens hatte einen Teil seiner Kraft für immer verausgabt, um diesen blinden Willen zu beugen. Und ich hatte in mir weder die Kraft, diesen Mann aufzuhalten, als er floh, noch die Geistesgegenwart, jemand hinter ihm herzuschicken. Und kein Fünkchen Macht mehr in mir, um ihm selbst zu folgen. So verschwand er aus Rok. Spurlos.
Wir konnten den Kampf, den wir mit ihm ausgefochten hatten, nicht verbergen, doch wir sprachen darüber so wenig wie möglich. Und viele sagten: Gut, dass wir ihn los sind, er war schon immer halb verrückt und zuletzt war er vollkommen verrückt.
Aber nachdem der Meister des Gebietens und ich die blauen Flecken auf unserer Seele verwunden hatten, wie Ihr vielleicht sagen würdet, und auch die große Mattigkeit, die auf einen solchen Kampf folgt, überlegten wir uns, dass es bestimmt nicht gut war, wenn ein Magier mit so großer Macht durch die Erdsee zog, nicht ganz bei Sinnen und vielleicht voller Scham, Wut und Rachsucht.
Aber wir konnten keine Spur von ihm entdecken. Sicher hatte er sich in einen Vogel oder einen Fisch verwandelt, als er Rok verließ, bis er eine andere Insel erreichte. Und ein Zauberer kann sich vor allen Findezaubern verstecken. Wir stellten Nachforschungen an,
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