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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Insel Ark, einer reichen Insel im Innenmeer, weit im Südosten von Semel, ein Kind geboren. Dieses Kind war der Sohn eines einfachen Dieners im Haushalt des Herrn von Ark. Nicht wirklich das Kind armer Leute, aber doch kein Kind von Stand. Und die Eltern starben jung. So fand der Junge weiter keine Beachtung, bis man auf ihn aufmerksam wurde wegen dem, was er tat und tim konnte. Er war ein unheimliches Blag, wie man so sagt. Er besaß Macht. Mit einem Wort konnte er ein Feuer entfachen oder löschen. Er konnte Töpfe und Pfannen durch die Luft fliegen lassen. Er konnte eine Maus in eine Taube verwandeln und diese durch die große Küche des Herrn von Ark fliegen lassen. Wer ihn ärgerte oder erschreckte, dem fügte er Böses zu. Er leerte einen Eimer kochend heißes Wasser über einem Koch aus, der ihn schlecht behandelt hatte.«
    »Um Himmels willen«, flüsterte Gabe. Sie hatte keinen einzigen Stich genäht, seit er zu erzählen begonnen hatte.
    »Er war nur ein Kind, und die Zauberer in diesem Haushalt können keine weisen Männer gewesen sein, denn sie brachten ihm wenig Umsicht und Freundlichkeit entgegen. Vielleicht hatten sie Angst vor ihm. Sie banden ihm die Hände und knebelten ihn, damit er keine Zaubersprüche sagen und wirken konnte. Sie sperrten ihn in ein Kellerverlies, bis sie meinten, er sei gezähmt. Dann schickten sie ihn in die Ställe auf dem großen Gutshof, weil er mit Tieren umgehen konnte und ruhiger war, wenn er in der Nähe von Pferden war. Aber er bekam Streit mit einem Stalljungen und verwandelte den armen Kerl in ein Häuflein Mist. Als die Zauberer den Stallburschen wieder in seine natürliche Gestalt zurückverwandelt hatten, fesselten und knebelten sie den Jungen wieder und setzten ihn auf ein Schiff nach Rok. Sie meinten, die Meister dort würden ihn zähmen können.«
    »Armes Kind«, murmelte sie.
    »Ja wirklich, denn die Seeleute hatten auch Angst vor ihm und hielten ihn die ganze Reise über gefesselt. Als der Pförtner des Großhauses von Rok ihn sah, band er ihm die Hände los und befreite seine Zunge. Und das Erste, was der Junge im Großhaus tat, war, dass er den langen Tisch im Speisesaal umstieß, das Bier schal werden ließ und einen Schüler, der ihn aufhalten wollte, in ein Schwein verwandelte. Aber die Meister waren ihm gewachsen.
    Sie bestraften ihn nicht, sondern hielten seine wilden Kräfte durch Zauber in Bann, bis sie ihn dahin gebracht hatten, dass er zuhörte und anfing zu lernen. Aber das dauerte lange. Sein Geist war geprägt vom Kampf um die Vorherrschaft, weswegen er jede Macht, die er nicht besaß, alles, was er nicht kannte, als Bedrohung und als Herausforderung empfand, etwas, was man bekämpfen musste, bis es besiegt war. Viele Jungen sind so. Ich war es auch. Aber ich hatte Glück, diese Lektion habe ich früh gelernt.
    Nim, wenigstens lernte dieser Junge, seinen Ärger zu beherrschen und seine Macht im Zaum zu halten. Und seine Macht war sehr groß. Was er auch lernte, es fiel ihm leicht, zu leicht, sodass er Zauberei und Wettermachen und sogar Heilen gering schätzte, weil da keine Angst dabei war, weil sie keine Herausforderung für ihn bedeuteten. Die Beherrschung dieser Künste barg für ihn keine Tugend in sich. Also konzentrierte er, nachdem der Erzmagier Nemmerle ihm seinen Namen gegeben hatte, seinen ganzen Willen auf die große Kunst des Gebietens. Und lange Zeit lernte er beim Meister dieser Kunst.
    Er lebte nach wie vor auf Rok, von wo das gesamte Wissen über Magie kommt und wo es gehütet wird. Und er verspürte kein Verlangen zu reisen und andere Menschen kennen zu lernen oder die Welt zu sehen, denn er meinte, er könne über die ganze Welt gebieten, sodass sie zu ihm kam - was stimmte. Vielleicht ist das die Gefahr, die in dieser Kunst liegt.
    Nim, was jedem Meister des Gebietens oder Zauberer verboten ist, das ist, einen lebenden Geist zu rufen. Wir können sie anrufen. Wir können eine Stimme oder eine Ahnung oder einen Geistboten von uns zu ihnen schicken. Doch wir beschwören sie nicht, im Geist oder im Fleisch zu uns zu kommen. Nur die Toten können wir beschwören. Nur die Schatten. Ihr werdet gleich einsehen, warum das so sein muss. Einen lebenden Menschen zu beschwören bedeutet, vollkommene Macht über ihn zu besitzen, über den Körper wie den Geist. Niemand aber, gleichgültig, wie stark oder weise oder groß er ist, kann rechtens einen anderen besitzen und benutzen.
    Doch der Geist des Wettstreits wirkte weiter in dem Jungen,

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