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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Tochter den wahren Namen zu geben? Oder ein kriecherischer, hinterhältiger Zauberer und Speichellecker dieser Emporkömmlinge und Landdiebe, die meinem Vater Westpfuhl gestohlen haben? Wenn dieses Stinktier auch nur einen Fuß auf meinen Boden setzt, dann hetze ich ihm die Hunde auf den Hals; sie sollen ihm die Leber herausreißen... Geht und sagt ihm das, wenn ihr wollt!« Und so weiter. Maßliebchen, die alte Haushälterin, kehrte in ihre Küche zurück und Kanin, der alte Winzer, zu seinen Rebstöcken, und die dreizehnjährige Tochter stürzte aus dem Haus, rannte den Hügel hinab ins Dorf und brüllte den Hunden die Flüche ihre Vaters zu; von dem Geschrei völlig außer Rand und Band, hetzten sie knurrend und bellend hinter ihr her. »Zurück, du Hexe mit dem schwarzen Herzen!«, kreischte sie. »Weg mit dir, du kriecherischer Verräter!« Und die Hunde verstummten und schlichen mit eingezogenem Schwanz zurück zum Haus.
    Als Schwebender Drache zur Dorfhexe kam, war diese gerade damit beschäftigt, aus der entzündeten Wunde am Hinterteil eines Schafes Maden herauszuholen. Mit gewöhnlichem Namen hieß die Hexe Rose, wie viele Frauen auf Weg und anderen Inseln des hardischen Archipels. Menschen, die einen geheimen Namen haben, der ihre Macht bündelt und fasst wie ein Diamant das Licht, tragen als gewöhnliche Rufnamen gern gängige und völlig unauffällige Namen.
    Mechanisch sagte Rose ihre Zauberformeln auf, aber die Hauptarbeit taten ihre Hände und das kleine, scharfe Messer. Geduldig ertrug das Mutterschaf die Behandlung; es hatte die tief liegenden, trübe bernsteinfarbenen Augen ins Leere gerichtet und stampfte nur hin und wieder mit dem linken Vorderhuf auf, wobei es stöhnte. Schwebender Drache sah sich Roses Arbeit genau an. Rose holte eine Made heraus, ließ sie fallen und spuckte darauf, bohrte weiter. Das Mädchen lehnte sich an das Schaf und das Schaf lehnte sich an das Mädchen, sie spendeten sich gegenseitig Trost. Rose holte die letzte Made heraus, ließ sie fallen, spuckte darauf und sagte: »Gib mir jetzt diesen Eimer rüber.« Sie wusch die Wunde mit Salzwasser aus. Das Schaf stöhnte tief auf und lief plötzlich vom Hof nach Hause. Es hatte genug von der Behandlung. »Bock!«, rief Rose. Ein schmuddeliger kleiner Junge kam unter einem Busch hervorgekrochen, wo er gedöst hatte, und lief hinter dem Schaf her, auf das er aufzupassen hatte, obwohl das Tier älter, dicker, besser genährt und vermutlich auch klüger war als er.
    »Sie haben gesagt, du solltest mir meinen Namen geben«, sagte Schwebender Drache. »Vater hat einen Wutanfall gekriegt. Das wär's dann wohl.«
    Die Hexe schwieg. Sie wusste, dass das Mädchen Recht hatte. Wenn der Herr von Iria einmal sagte, er erlaube etwas nicht, dann änderte er seine Meinung nie und rühmte gar seine Unnachgiebigkeit, denn nur Schwächlinge verboten etwas und widerriefen es dann.
    »Warum kann ich mir meinen wahren Namen nicht selbst geben?«, fragte Schwebender Drache, während Rose ihre Hände und das Messer im Salzwasser wusch.
    »Das ist nicht möglich.«
    »Warum nicht? Warum muss es eine Hexe oder ein Zauberer sein? Was tut ihr?«
    »Nun«, sagte Rose und schüttete das Salzwasser auf den blanken Lehmboden in dem kleinen Vorgarten vor ihrer Hütte, die wie die meisten Hexenhäuser etwas abseits am Dorfrand stand. »Nun«, wiederholte sie, richtete sich auf und sah sich um wie auf der Suche nach einer Antwort oder einem Schaf oder einem Handtuch. »Man muss etwas über die Macht wissen«, sagte sie schließlich und sah Schwebender Drache mit einem Auge an. Ihr anderes Auge blickte etwas zur Seite. Manchmal dachte Schwebender Drache, ihr linkes Auge schiele, dann wieder schien es ihr das rechte zu sein, immer aber schaute ein Auge geradeaus und das andere beobachtete etwas knapp außerhalb des Sichtfelds, um die Ecke, anderswo.
    »Welche Macht?«
    »Die eine«, sagte Rose. Genauso plötzlich, wie das Schaf davongelaufen war, ging sie in ihre Hütte. Schwebender Drache folgte ihr, aber nur bis an die Schwelle. Niemand betrat unaufgefordert ein Hexenhaus.
    »Du hast gesagt, dass ich sie besitze«, rief das Mädchen in das muffige Dunkel der Hütte.
    »Ich habe gesagt, du hast Kraft in dir, große Kraft«, erwiderte die Hexe aus der Dunkelheit heraus. »Und du weißt das auch. Was du tun wirst und musst, kann ich dir nicht sagen und du weißt es auch nicht. Es wird sich weisen. Es gibt jedoch keine derartige Kraft, die es einem ermöglicht,

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