Das verschollene Reich
nicht.«
»Aber der Meister praeceptor …«
»Der Meister praeceptor ist nicht hier«, knurrte Kathan, »und es ist auch nicht sein Leben, das gleich endet. Glaube mir, Junge, es wäre nicht die erste Kehle, die ich durchbohre.«
Er sagte es mit einer Mischung aus Erbitterung und Gleichgültigkeit, die dem Posten klarzumachen schien, dass jede weitere Weigerung ein tödlicher Fehler gewesen wäre.
»Do-dort hinab«, stammelte er und deutete mit den Augen in den Gang, der vom Fuß der Treppe aus in ungewisse Finsternis führte.
»Du gehst voraus«, wies Kathan den Wächter an und nahm das Schwert von seiner Kehle, behielt es jedoch erhoben.
Widerwillig gehorchte der Mann und setzte sich in Bewegung, den feuchten Gang hinab, dessen Decke und Wände schwarz von Ruß und Schimmel waren. Zu beiden Seiten waren Öffnungen in die Wand eingelassen, die von rostigen Eisengittern verschlossen wurden. Die meisten Zellen des carcers schienen leer zu sein. Hinter der letzten Tür allerdings konnte Kathan eine kleine, zusammengekauerte Gestalt ausmachen.
»Aufmachen«, wies er den Wächter an.
Mit bebenden Händen tat der Mann, was von ihm verlangt wurde. Quietschend schwang die Tür auf – und das zusammengekauerte Bündel Mensch, das am Boden der kleinen Zelle hockte, erwachte.
Nur wenige Tage hatte Kathan das Mädchen nicht gesehen. Als er nun im Schein der Fackel in das kleine Gesicht blickte, erschrak er. Das Kind war noch magerer geworden. Seine Wangen waren fahl und eingefallen, seine Augen tief liegend und dunkel gerändert. Und überall hatte es Blessuren.
»Hast du das getan?«, erkundigte sich Kathan bei dem Wächter.
»Nur auf Befehl des praecept -«
Kathan ließ ihn nicht ausreden.
Die eisenbewehrte Faust, die den Griff des Schwertes umfasste, krachte mit derartiger Wucht in das Gesicht des Folterknechts, dass seine knollenförmige Nase wie eine überreife Frucht zerplatzte. Bewusstlos sank der Mann in die Knie, und Kathan trat in die Zelle.
Das Mädchen regte sich nicht. Unbewegt kauerte es am Boden, die dünnen Arme um die angezogenen Beine geschlungen, und starrte ihn so gedankenverloren an, dass er schon fürchtete, es hätte den Verstand verloren. Dann, als würde es aus tiefer Trance erwachen, schien es ihn plötzlich zu erkennen.
»Kathan …?«
Er steckte das Schwert zurück in die Scheide und bückte sich, nahm das Kind auf den Arm. Dabei schlang es seine Arme um seinen Nacken und drückte sich fest an ihn. Rührung wollte ihn überkommen, und er fühlte ein brennendes Gefühl in den Augen, für das er sich selbst verachtete.
»Schon gut«, versicherte er flüsternd, »jetzt ist alles gut. Wir gehen fort von hier, verstehst du?«
Sie sagte nichts, sondern begann leise zu weinen, und er schalt sich einen verdammten Narren dafür, dass er nicht schon früher dem Drängen seines Gewissens nachgegeben hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den carcer , trug das Kind die Treppe empor und nach draußen. Die beiden Wachen, die er überwältigt hatte, lagen noch immer bewusstlos am Boden, niemand hatte sie entdeckt.
Mit raschen Schritten überquerte Kathan den Innenhof und betrat den Stall, wo bereits sein gesatteltes Pferd stand – dem Stallknecht hatte er gesagt, dass er einen Botenritt zu erledigen habe und daher noch in der Nacht aufbrechen müsse. Der Packsack am Sattel war mit Proviant gefüllt, der zumindest für die nächsten Tage ausreichen würde. Danach würde er weitersehen.
So behutsam er es vermochte, setzte Kathan das Mädchen auf das Pferd. Der Blick, mit dem das Kind ihn dabei bedachte, war frei von Vorwurf, aber voller Schmerz.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. Dann stieg auch er in den Sattel, griff nach den Zügeln und trieb den mächtigen destrier zum Stalltor hinaus.
»Wohin reiten wir, Kathan?«
Er konnte keine Furcht in der Stimme des Mädchens ausmachen, es schien ihm blind zu vertrauen – und er fragte sich, womit in aller Welt er dieses Vertrauen verdient hatte.
»Es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren«, erwiderte er leise, dann gab er dem Ross die Sporen, und sie ritten hinaus in die Nacht, wo Nebel und Dunkelheit sie alsbald schützend umfingen.
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11
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»Siehe, wie fein und lieblich es ist, wenn Geschwister einträchtig beieinander wohnen.«
Psalm 133,1
Königreich Jerusalem
April 1187
»Schwester?«
Es war dieselbe Kammer. Dieselbe Fensterbank, auf der Sibylla saß. Derselbe Innenhof, auf den sie blickte, um ihre von Sorge
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