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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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bedenken, »sowohl als Vertrauter unseres Vaters als auch als Regent. Ist es nicht verständlich, dass er mit Bitterkeit reagiert, wenn ein anderer die Früchte seiner Mühen erntet?«
    »Du magst es verstehen, Schwester. Als Gemahlin des Mannes, dem Raymond die Krone neidet, kann ich es nicht.«
    »Aber Ihr könnt ihm die Hand in Freundschaft reichen«, beharrte Isabela. »Auch Raymond weiß, dass persönliche Rivalität in den Hintergrund treten muss, wenn das Reich bedroht ist.«
    »Tatsächlich? Weiß er das?« Sibyllas Worte waren spitz und schneidend. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste die Königin sich jedoch eingestehen, dass Isabelas Worte in ihr eine Sehnsucht weckten. Eine Sehnsucht nach Einheit. Nach Stärke.
    »Was hast du vor?«, fragte sie und sah ihre Schwester dabei durchdringend an. Sie hatte das Versteckspiel satt, wollte eine offene Antwort. »Was führst du im Schilde, Isabela?«
    »Wenn Ihr es wünscht, Schwester, so könnte ich einen Boten nach Tiberias entsenden, wo sich Graf Raymond gegenwärtig aufhält. Da mir der Graf vertraut, nehme ich an, dass es mir gelingen könnte, ihn zu einem Treffen zu überreden.«
    »Was für ein Treffen?«
    »Eine Zusammenkunft auf neutralem Grund«, erklärte Isabela, »eine Begegnung der beiden mächtigsten Männer unseres Reiches, bei dem der König von Jerusalem seinen einstigen Rivalen um Beistand gegen den gemeinsamen Gegner bittet.«
    »Ihn bittet?«, wiederholte Sibylla ungläubig. »Mein Gemahl, der König, soll um etwas bitten?«
    »So wie Raymond auf etwas verzichten und sich dem Befehl Eures Gemahls unterwerfen soll«, bekräftigte Isabela. »Es mag uns gefallen oder nicht, in diesen Tagen ist Besonnenheit gefragt.«
    Sibylla biss sich auf die Lippen. Gerne hätte sie widersprochen, aber allen Unterschieden zum Trotz, die zwischen ihnen bestehen mochten, drückte ihre Schwester genau das aus, was sie selbst empfand. Ihr Gemahl und seine Berater würden das allerdings anders sehen.
    »Guy wird nicht einverstanden sein«, prophezeite sie. »Er wird darauf bestehen, dass Raymond nach Jerusalem kommt und ihm huldigt.«
    »Das wird nicht geschehen«, meinte Isabela überzeugt. »Euer Gemahl sollte seinen Stolz überwinden und Raymond entgegenkommen.«
    »Er wird auf seinem Recht beharren, schließlich ist er der König.«
    »Das ist wahr«, räumte Isabela ein, »aber er sollte auch erwägen, wie lange er noch König ist, wenn Saladins Heer vor den Mauern erscheint.«
    Sibylla starrte ihre Schwester an. Wie immer waren Isabelas Züge voller Unschuld. Die Worte aus ihrem Mund jedoch waren wohlgewählt und trafen wie Pfeile, und sosehr es ihr widerstrebte, musste sie Isabela in jeder Hinsicht recht geben. Guy de Lusignan mochte der König sein, aber er war ein König ohne Macht, ein zahnloser Löwe.
    »Ich weiß, dass Ihr die Möglichkeit habt, Euren Gemahl zu beeinflussen«, sprach Isabela ihr Mut zu, »so wie ich auch meinen Gemahl zu lenken vermag. Die Natur mag uns mit weniger Körperkraft ausgestattet haben als das männliche Geschlecht, doch gibt es Mittel und Wege, es uns gefügig zu machen.«
    Verblüfft schaute Sibylla ihre Schwester an, über deren so unschuldigen Zügen plötzlich ein Hauch von Verderbtheit zu liegen schien. Offenbar wusste sie von Dingen, von denen sie selbst erst in sehr viel reiferem Alter erfahren hatte.
    »Angenommen, es gelänge mir«, erwiderte sie, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, »was dann, Isabela?«
    »Graf Raymond wird sich dem Treffen nicht verweigern. Ich weiß, dass er nur auf ein Zeichen von Euch wartet. Wenn die beiden mächtigsten Heerführer des Reiches vereint zusammenstehen, haben wir vielleicht noch eine Chance, Saladin zu widerstehen. Wenn nicht …«
    Sie überließ es Sibylla, sich den Rest zu denken, und die Königin überlegte tatsächlich. Sie wog das Für und Wider von Isabelas Vorschlag ab – und sie dachte auch an die Alternativen, für die sie gesorgt, an die geheimen Vorbereitungen, die sie getroffen hatte, um in der Not nicht das Bündnis mit falschen Freunden suchen zu müssen.
    »Sie werden nicht zurückkehren«, sagte Isabela unvermittelt.
    Sibylla hob die Brauen. »Von wem sprichst du?«
    »Von den beiden Mönchen, die Ihr ausgesandt habt, um nach dem Reich des Priesterkönigs zu suchen«, entgegnete ihre Schwester so prompt und unverwandt, dass es Sibylla für einen Augenblick die Sprache verschlug.
    Ihr Gesicht wurde heiß, ihr Pulsschlag beschleunigte sich, ihre

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