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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wohin er sie führte.
    In die Heimat, hat er gesagt.
    Wo mag das sein?
    Es dauerte nicht lange, bis sie bleierne Müdigkeit überkam, und obwohl sie noch immer erbärmlich fror und der eisig kalte Wind ihre Glieder schmerzen ließ, schlief sie in den Armen ihres Retters ein, dem sie bedingungslos vertraute.
    Wieder träumte sie.
    Von einer Festung über den Wolken; von einem gewaltigen Bild aus Stein; von einem See, über dem ein voller Mond am Himmel stand, der sich im glatten Wasser spiegelte; von einem Wald aus entlaubten, tief verschneiten Bäumen, die einen schmalen Pfad säumten …
    … und von den Wölfen!
    Einmal mehr waren sie auf der Jagd, streunten ruhelos umher und suchten die Flüchtlinge einzuholen …
    Ein gellender Schrei riss sie jäh in die Wirklichkeit zurück.
    Sie öffnete die Augen, fand sich in Kathans Armen. Zu ihrer Verblüffung war es bereits Nachmittag. Die grauen Wolken, die sich morgens noch am Himmel geballt hatten, hatten sich gelichtet, ebenso wie der sie umgebende Wald. Helles Sonnenlicht brach sich zögernd Bahn und blendete sie, wärmte ihr Gesicht.
    »Guten Morgen«, grüßte Kathan freundlich herab, und zum ersten Mal entdeckte sie so etwas wie ein Lächeln in seinen grimmigen Zügen.
    Sie erwiderte das Lächeln, zaghaft und scheu – und musste plötzlich an das denken, was sie geweckt hatte.
    »Was war das?«, fragte sie leise.
    »Was meinst du?«
    »Dieser Schrei.«
    »Nur ein Tier, nichts weiter. In dieser Gegend streifen bisweilen Wölfe umher, aber sei unbesorgt, an uns wagen sie sich nicht heran.«
    Wölfe!
    Allein die Vorstellung ängstigte sie. Unwillkürlich schmiegte sie sich an die Brust ihres Retters, die mit kaltem Eisen gepanzert war und doch so viel Trost und Schutz versprach.
    Kathan schien ihre Furcht zu spüren. »Hab keine Angst«, sagte er, »du bist in Sicherheit.«
    Sie war nicht überzeugt, aber sie widersprach nicht.
    »Danke«, flüsterte sie stattdessen.
    Wieder schaute er zu ihr herab, lange diesmal.
    »Ich habe zu danken«, erwiderte er dann.
    »Wofür?«
    »Weil du mir den Weg gezeigt hast.«
    »Hattest du dich denn verirrt?«
    Wieder lächelte er. »Ich denke schon.«
    »Wohin reiten wir?«
    »Ich sagte es dir schon, in meine Heimat.«
    »Wo ist das?«
    »Weit im Westen. Dort, wo das Land aufhört und das Meer beginnt.«
    »Ich habe das Meer noch nie gesehen.«
    »Das wirst du«, versprach er, und er tat es mit derartiger Überzeugung, dass sie einen kurzen, zerbrechlichen Augenblick lang das beruhigend wärmende Gefühl verspürte, es könnte tatsächlich alles gut werden. Schon im nächsten Moment war das Gefühl jedoch verflogen, und die alte Furcht kehrte zurück, zusammen mit den Schmerzen in ihren Gliedern und der schneidenden Kälte.
    »Ich will nicht zurück«, flüsterte sie. »Niemals.«
    »Keine Sorge, das musst du nicht.«
    »Versprichst du es?«
    Er schaute ihr lange und prüfend in die Augen. »Ich verspreche es.«
    Trotz ihres geschwächten Zustands und des Umhangs, in den sie gewickelt war, gelang es ihr, sich so weit aufzurichten, dass sie ihm einen Kuss auf die bärtige Wange hauchen konnte, kalt und flüchtig, aber voller Dankbarkeit. Als sie sich wieder niederließ, fiel ihr Blick auf die Bäume, die den Pfad zu beiden Seiten säumten, und sie erschrak.
    Kahle Wipfel, die Äste von Schnee bedeckt. In der Mitte der Pfad.
    Jäh begriff sie, dass dies der Wald war, den sie in ihrem Fiebertraum gesehen hatte.
    Der Wald der Wölfe!
    Vor Angst und Entsetzen stieß sie einen schrillen Schrei aus. Kathan, der darauf nicht gefasst war, gab eine Verwünschung von sich, das Pferd scheute. Nur mit Mühe gelang es dem Ritter, das Tier am Aufbäumen zu hindern.
    Das Mädchen jedoch schrie weiter.
    »Was ist?«, fragte Kathan entsetzt.
    »Die Wölfe! Sie sind hier!«
    »Ich weiß, aber sie tun uns nichts.«
    »Nicht diese Wölfe! Wölfe auf zwei Beinen! Raubtiere in Menschengestalt! Sie reißen die Lämmer.«
    »Was?« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er kein Wort verstand und sie noch immer im Fiebertraum wähnte.
    »Wir müssen fort von hier, rasch!«
    Jetzt erst begriff er. Seine Züge versteinerten sich, als ihm aufging, dass sie ihm eine Warnung zukommen ließ, so wie damals in der Schlucht, als die Wegelagerer ihnen auflauerten.
    Kathan verlor keine Zeit. Sein linker Arm schloss sich noch fester um die zerbrechliche kleine Gestalt, während er mit der Rechten die Zügel schnalzen ließ. Doch einen Lidschlag, ehe er dem Pferd die Sporen

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