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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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herangepirscht hatten und die in diesem Moment zum Angriff übergingen!
    »Lauf, Cassandra!«
    Nun, da Rowans Schrei die Stille der Nacht zerrissen hatte, verfielen auch die Angreifer in lautes Gebrüll. Klingen waren zu sehen, die im Mondlicht blitzten, und Rowan wusste, dass er fliehen musste, oder er war verloren!
    Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und fuhr herum, schwang den Stock mit furchtbarer Wucht. Der Angreifer, der darauf nicht gefasst war, lief in den Schlag, der ihn am Kopf erwischte. Der Mann taumelte zurück und fiel rücklings ins Feuer. Funken stoben auf und sorgten dafür, dass die übrigen Angreifer einen Augenblick lang zögerten. Diesen Augenblick nutzte Rowan, um Cassandra an der Hand zu fassen und sie hinter sich herzuziehen, hinein in die schützende Dunkelheit.
    Hals über Kopf irrten sie in die Nacht. Jetzt war Rowan froh darüber, dass er am Abend vergeblich nach trockenem Feuerholz gesucht hatte, denn dadurch kannte er die Gegend, wusste von der schmalen Schlucht, die den Hügel teilte, und von der großen Eiche, die dort stand und deren Wurzeln von Dornengestrüpp überwuchert waren. Dort hinein krochen sie in der Hoffnung, dass die Räuber, wer immer sie waren, nicht nach ihnen suchen würden.
    Sie achteten nicht auf die Dornen, die ihnen die Haut zerkratzten, nicht auf die knorrigen Wurzeln, an denen sie sich stießen. Auch den Regen, der kurz darauf einsetzte, nahmen sie kaum wahr. Eng aneinandergekauert warteten sie ab, spähten zwischen den Zweigen in die Dunkelheit, wagten kein Wort zu sprechen.
    Es wurde die längste Nacht ihres Lebens.

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14
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    »Furcht ist nichts anderes als die Verzweiflung an der Hilfe durch die Vernunft.«
    Buch der Weisheit 17,12
    Königspalast von Jerusalem
Ende April 1187
    Guy de Lusignan war wie erstarrt.
    Der König von Jerusalem war aufgesprungen, stand auf den Stufen seines Throns, das Schwert um die Hüfte gegürtet und die Hände zu Fäusten geballt – und war dennoch so machtlos wie ein kleines Kind.
    Mit fiebrigem Blick, die Wangenknochen bebend vor Zorn, blickte er den Gesandten hinterher, die soeben die große Halle des Königspalasts verließen. Am liebsten hätte er Befehl gegeben, sie zu ergreifen, auf den Hof hinauszuschleppen und dort öffentlich zu vierteilen, doch selbst in seiner Wut war ihm klar, dass dies ein Fehler gewesen wäre. Ein Fehler, noch größer als alle, die er bereits begangen hatte.
    Raynald de Chatillon, der als des Königs engster Vertrauter der Unterredung beigewohnt hatte, wartete nicht erst ab, bis die Gesandtschaft außer Hörweite war. »Dass diese verfluchten Heiden es wagen«, begehrte er auf, »Euch, dem Herrscher des Reiches Jerusalem, solch dreiste Forderungen zu stellen! Weiß dieser Hund von Saladin denn nicht, was ihm zukommt?«
    Seine Stimme hallte von der hohen Decke wider, während seine zornig blitzenden Schweinsäuglein nach Beifall heischten. Doch die erwartete Zustimmung blieb aus.
    »Es wäre nicht zu dieser Forderung gekommen, Raynald«, erwiderte Guy stattdessen, »hättet Ihr und Eure Leute nicht eine wehrlose Karawane überfallen und jeden einzelnen Sarazenen niedergemetzelt!«
    »Und? Was wollt Ihr nun tun, mein König?« Raynald, der am Fuß des Thronpodests stand, jedoch in keiner Weise erniedrigt wirkte, legte das bullige Haupt schief. »Die Forderung Saladins erfüllen und den Schuldigen des Massakers ausliefern?«
    »Es würde uns den Frieden sichern«, entgegnete Guy.
    »Unfug! Zu Saladins Spielzeug würde es Euch machen, zu einer Puppe in seinen Händen! Begreift Ihr denn nicht, was dieser Hundesohn vorhat? Saladin ist listig wie ein Fuchs! Er will einen Keil zwischen uns treiben und uns entzweien. Dabei kann uns in diesen Tagen nur Einheit vor dem Untergang bewahren!«
    »Oder die Auslieferung des Mannes, der dies verschuldet hat«, wandte Königin Sibylla ein, die einmal mehr ungefragt das Wort ergriff. Mit wachsendem Entsetzen hatte sie verfolgt, was Saladins Gesandte zu sagen hatten. Nackte Furcht hatte von ihr Besitz ergriffen – die Furcht vor dem, was über das Reich hereinbrechen mochte.
    »Und Ihr glaubt, dass Ihr Saladin aufhalten könnt, indem Ihr mich ihm zum Fraß vorwerft?« Raynald schüttelte das gerötete Haupt. »Dann seid Ihr im Irrtum, Herrin. Saladin will Jerusalem, um jeden Preis. Er sucht nur nach einem Anlass, uns zu spalten, damit er leichtes Spiel hat.«
    »Und Ihr habt ihm diesen Anlass gegeben«, ereiferte sich Guy in einem seltenen

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