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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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trafen, dämmerte ihr, kalt und nüchtern wie ein Wintermorgen.
    »Wir bedürfen nicht der Unterstützung eines fremden Königs, um zu behaupten, was unser ist«, erklärte Raynald de Chatillon voller Überzeugung. »Die Herrschaft über das Heilige Land gehört uns, die wir es den Heiden zum Preis unseres Blutes entrissen haben! Weder lassen wir sie uns von jemandem streitig machen, noch bedürfen wir der Hilfe eines geheimnisvollen Königs von jenseits des Orients, um sie zu behaupten!«
    »Das sagt Ihr«, ächzte Guy tonlos. »Habt Ihr Euch je Gedanken darüber gemacht, was im Fall einer Niederlage geschehen wird? Wenn das Königreich Jerusalem stirbt, stirbt mit ihm auch der Traum von einem christlichen Palästina! Alles, wofür wir jemals gekämpft, wofür wir Opfer gebracht haben und wofür Blut geflossen ist, wäre dann verloren – und es würde mein Name sein, der auf ewig mit dieser Schmach verbunden ist!«
    »Wir alle sind in der Hand des Allmächtigen«, entgegnete Raynald mit einem Grinsen, das seine frommen Worte Lügen strafte. »Steht auf und führt uns in die Schlacht, Herr – und überlasst es der Geschichte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob wir triumphiert oder gefehlt haben.«
    Nachdenklich saß der König da, sein schmächtiger Brustkorb hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, mit denen er seine Unruhe zu bekämpfen versuchte. »Ich werde Euch führen«, bestätigte er schließlich. »Ihr habt recht, wenn Ihr sagt, dass der Krieg unausweichlich ist, Raynald. Aber Ihr habt unrecht, wenn Ihr behauptet, dass wir keiner Hilfe bedürfen. In dem Kampf, der uns bevorsteht, brauchen wir jede Schwerthand, derer wir habhaft werden können, deshalb ist es an der Zeit, alten Streit zu begraben.«
    »Was soll das heißen?«
    Die Blicke, mit denen sowohl Raynald de Chatillon als auch Gérard de Ridefort den König bedachten, waren so streng und forschend, dass Guy augenblicklich wieder ins Wanken geriet. Der König wandte das Haupt und sandte seiner Gemahlin einen hilflosen, fast flehenden Blick. Sibylla war jedoch klar, dass sie nichts erwidern durfte, wollte sie nicht auch noch das letzte bisschen Ansehen, das der König genoss, in den Staub treten. Sie begnügte sich damit, ihm kaum merklich zuzunicken und dann die Augen zu schließen und ein lautloses Gebet zu sprechen, dass der Herr ihrem Gemahl den Mut geben möge, das zu sagen, was sie ihm in der Abgeschiedenheit seines Schlafgemachs eingeredet hatte, zu seinem Wohl und zum Besten des Reiches.
    »Ich werde«, hörte sie ihren Gemahl mit wankender, aber entschlossener Stimme verkünden, »Boten nach Tiberias entsenden und Graf Raymond um eine Unterredung ersuchen. Unsere Gegnerschaft muss enden, unser aller Traum verlangt danach.«

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15
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    »Manch ein Weg dünkt den Menschen der rechte, zuletzt aber ist es der Weg des Todes.«
    Sprüche 16,25
    Wald von Othe
8. Dezember 1173
    Sie fühlte sich ein wenig besser, obwohl sie kaum geschlafen hatte. Ruhelos hatte sie sich auf ihrem Lager hin und her gewälzt, verfolgt von Traumbildern, die ihr im Fieberwahn bedrückend wirklich erschienen waren.
    Sie hatte wieder von Wölfen geträumt, wilden Bestien mit blutunterlaufenen Augen. Doch diesmal waren es nicht die Wölfe gewesen, die den Tod gebracht hatten, nein, sie selbst waren zugrunde gegangen. Sie hatte Bilder von steinernen Türmen gesehen, von Mauern, die zu Bruch gingen und die Wölfe unter sich begruben.
    Doch wenn sie die Augen öffnete, hatte sie in das Gesicht von Kathan geblickt, der sorgenvoll an ihrem Lager wachte, der ihre hitzige Stirn kühlte und ihr zärtlich über das Haar strich.
    Warum nur?
    Sie wusste es nicht.
    Der Tempelritter, der seine Robe abgelegt hatte – etwa um ihretwillen? –, schien anders zu sein als viele Erwachsene, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Wenn er sie ansah, tat er es nicht mit der Gemeinheit, die ihr so oft aus anderen Blicken entgegenschlug. Manches an ihm erinnerte sie an Pater Edwin – und anderes auch wieder nicht. Sie nahm an, dass sich die beiden gut verstanden hätten, hätten sie sich jemals kennengelernt.
    Als sie am Morgen erwacht war, hatte das Fieber ein wenig nachgelassen. Die Decken, die durchnässt waren vom Schweiß der Nacht, hatten sie nicht mehr zu wärmen vermocht, und Kathan hatte ihr seinen eigenen Umhang umgelegt. Das fiebernde Kind in den Armen, war er in den Sattel gestiegen, und sie hatten ihren Weg fortgesetzt, von dem das Mädchen noch immer nicht wusste,

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