Das verschollene Reich
Ausbruch von Temperament, der freilich weniger seiner Führungsstärke geschuldet war als vielmehr nackter Angst. »Was hat Euch nur geritten, Mann?«
»Das will ich Euch verraten, mein König.« Ein böswilliges Grinsen huschte über Raynalds Züge. »Ich hatte das Warten satt. Der Kampf gegen die Sarazenen ist unausweichlich, und ich möchte ihn lieber heute führen als morgen. Die Entscheidung muss gesucht werden, und das möglichst bald, ehe Saladin noch mehr an Macht gewinnt. Wären wir schon vor Jahren gegen ihn gezogen, wäre er längst besiegt, und wir hätten von ihm nichts mehr zu befürchten!«
»Ich fürchte, Raynald hat recht, Herr«, stimmte Gérard de Ridefort zu, der Großmeister des Templerordens, der der Unterredung beigewohnt, bislang jedoch geschwiegen hatte.
»Und deswegen drängt er uns, einen Krieg zu beginnen, der womöglich mit unser aller Untergang enden wird?« Guys Stimme überschlug sich. Panik stand in seinen ausgemergelten Zügen zu lesen, seine Augen zuckten umher wie die eines Diebes auf der Flucht. »Soll Jerusalem untergehen, nur um einen einzelnen Mann zu beschützen? Um den Frevel zu rechtfertigen, den er eigenmächtig begangen hat?«
»Ihr glaubt, es ginge mir darum?« Ein verächtlicher Ausdruck huschte über Raynalds bärtige Züge. Dann zog er sein Schwert, drehte es herum und streckte es dem König mit dem Griff voraus entgegen. »Wenn Ihr das von mir denkt, Herr«, forderte er ihn auf, »dann nehmt meine Klinge und streckt mich damit nieder. Stoßt sie in mein Herz, wenn es dem Reich dient. Trennt mein Haupt von den Schultern und schickt es an Saladin, wenn Eure Krone dadurch gerettet werden kann! Ist es das, was Ihr wollt?«
»Nun, ich …«
»Was ich getan habe, war Unrecht«, bekannte der Graf von Antiochia rundheraus, »doch es war notwendig, und Ihr wisst das. Jerusalem kann nicht gerettet werden, indem ein einzelner Mann geopfert wird. Nur unser aller Blut kann das Königreich vor dem Untergang bewahren …«
»… oder es auf immer vernichten«, fügte Sibylla mit bebender Stimme hinzu. Die Königin wusste nicht, was schlimmer war: die Tatsache, dass ihnen ein Krieg aufgezwungen wurde, oder dass dies zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt geschah. »Ich fürchte, Ihr habt keine Ahnung, was Ihr heraufbeschworen habt, Graf Raymond. Zumal die Hilfe, die wir uns erhofften, nicht eintreffen wird.«
»Welche Hilfe?«, wollte Raynald wissen. »Sprecht Ihr von dem Mönch, den Ihr ausgesandt habt, um die Hilfe des geheimnisvollen Priesterkönigs zu erbitten?«
»In der Tat«, stimmte Sibylla zu und senkte beschämt das Haupt. »Ich habe allen Grund anzunehmen, dass die Mission gescheitert ist. Der Mönch Cuthbert hat uns verraten.«
»Seid unbesorgt, meine Königin«, wandte Gérard de Ridefort ein. »Wenn es so ist, wie Ihr sagt, wird er keine Gelegenheit haben, die Früchte seines Verrats zu ernten.«
»Wie … meint Ihr das?«
Der Großmeister der Templer, dessen dunkler Vollbart die untere Gesichtshälfte bedeckte und wie ein Vorhang jede Gefühlsregung verbarg, sandte ihr einen stechenden Blick. »Es bedeutet, dass ich für einen Fall wie diesen Vorsorge getroffen habe, Herrin«, erwiderte er und senkte in schlecht geheuchelter Unterwürfigkeit das Haupt. »Anders als Ihr habe ich Cuthbert von Beginn an nicht vertraut. Wisst Ihr noch, was er erwiderte, als Ihr ihm eine Eskorte von Tempelrittern zur Seite stellen wolltet?«
»Dass er Entdeckung fürchte. Und dass er lieber allein reisen wolle«, entgegnete Sibylla gepresst.
»Von diesem Augenblick an habe ich ihm misstraut«, erklärte de Ridefort, »und ihm seinen Wünschen zum Trotz einen Trupp meiner besten Kämpfer nachgesandt. Sie haben den Auftrag, jeden seiner Schritte zu überwachen und ihn und seine Gefährten zu töten, sollten sie sich gegen Euch oder das Reich wenden.«
»Ihr … habt gegen meinen Willen gehandelt?«
»Nur um Euch zu schützen, meine Königin. Wäre die Sache bekannt geworden, so wäre ich allein dafür verantwortlich gewesen. Euren Gemahl und Euch hätte keine Schuld getroffen.«
»Ich verstehe.« Sibylla blickte zu ihrem Gatten, der wieder auf seinen Thron gesunken war und neben ihr saß, das kantige Kinn auf die Hand mit dem königlichen Siegelring gestützt – und zum ersten Mal ahnte sie, wie er sich fühlen musste. Die hässliche Erkenntnis, dass ihnen das Heft des Handelns längst aus den Händen genommen worden war, dass längst andere die Entscheidungen im Königreich
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